Freitag, 26. Juni 2015

Rheinkind, Kapitel 4

Am ersten Juniwochenende war es über dreißig Grad heiß. Im Radio hatten sie gesagt, es sei das heißeste Pfingstfest seit fünfzig Jahren. Ein Jahr zuvor hatte er noch mit seiner Mutter bei einem Pfingstausflug zum Germania-Denkmal auf der anderen Rheinseite gemacht. Unter der dicken und furchteinflößend hässlichen Statue hatten sie eine halbe Stunde im Nieselregen gebibbert, anschließend Kuchen in einem Rüdesheimer Café gegessen und waren schnell wieder nach Hause gefahren. Damals waren es noch nicht einmal zehn Grad gewesen, heute war der Junge in kurzen Hosen und T-Shirt unterwegs.
Er war mit Julian Weitzel verabredet, der in einem alten Elektrizitätswerk hinter dem Uffhubtor lebte. Es war ein altes Stadttor in Ober-Ingelheim, nicht weit vom mittelalterlichen Burggelände entfernt. Julian kannte er schon seit der fünften Klasse. Er ging nicht gerne zur Schule, aber sein Vater war Beamter in der Stadtverwaltung und wollte unbedingt, dass seine Kinder aufs Gymnasium gingen. Julian bekam wegen seiner unaufgeforderten Kommentare im Unterricht regelmäßig Einträge ins Klassenbuch, die er in den Pausen mit höhnischer Stimme vorlas, wenn gerade kein Lehrer im Klassenzimmer war. Er spielte in der D-Jugend der Fußballmannschaft der „Spielvereinigung Ingelheim“, die im Stadion zwischen Schwimmbad und Baggersee trainierte.
Julian wartete schon vor der Tür. „Komm lass uns gleich abhauen“, rief er dem Jungen zu.
„Was ist denn los?“ fragte der Junge, der vom Anstieg nach Ober-Ingelheim noch etwas aus der Puste war.
„Da gibt’s ein altes Haus in der Stiegelgasse. Das steht leer.“
Der Junge kannte die Straße nicht. Er konnte sich die ganzen Straßennamen nie genau merken, dafür prägte er sich Abzweigungen und Häuser ein. Er folgte seinem Freund, der bereits durch das Tor zur Hauptstraße schoss.
Das Tor und auch die anschließenden Mauern waren aus blassgelbem Bruchstein wie viele der Ingelheimer Häuser. Sein Vater hatte ihm erklärt, es handle sich um Flonheimer Stein, ein Sandstein aus einem rheinhessischen Steinbruch.
Auch das Haus in der Stiegelgasse war aus dem hellen Stein gebaut, der im Sonnenlicht dieses Nachmittags fast zu leuchten schien.
Julian stellte sein Rad ab und fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Mähne. „Los, hier ist es.“
Er schien ungeduldig. Der Junge fragte sich, wie sie überhaupt ins Haus gelangen wollten, während er sein Fahrrad abschloss. Weder Türen noch Fenster waren geöffnet.
Aber Julian hatte schon im Nachbarhaus geklingelt.
Ein großer untersetzter Mann mit Hosenträgern öffnete die Tür.
„Hallo, Onkel Gerhard. Können wir im Garten spielen?“
Dann war er einfach an dem Mann vorbei geflitzt und der Junge folgte nur zögernd. Der Mann lächelte und winkte ihn herbei.
Der Garten war nicht groß und völlig zugewachsen. Der Rasen war voller Moos und die Steinplatten des kleinen Weges waren schief und an manchen Stellen sogar gebrochen. Der Onkel war ihnen nicht gefolgt und Julian lockte ihn mit dem Zeigefinger näher.
„Hier, schau mal“. Er strahlte den Jungen mit seinen großen blauen Augen an. „Hinter diesem Gebüsch kommen wir auf die Mauer und von da auf’s Dach von dem Anbau drüben. Hab’ ich alles schon ausbaldowert.“
Schnell waren sie über die kleine Mauer auf das Nachbargrundstück geklettert. Der schmale Anbau war noch nicht einmal mannshoch und mit Teerpappe gedeckt. Auf der anderen Seite war ein großer Komposthaufen, der aber schon seit Jahren bewachsen war und aus dem junge Weiden sprossen.
Als sie auf der Wiese vor dem Haus standen, hatte der Junge doch ein bisschen Angst. Wenn das rauskommt, sind wir dran wegen Einbruchs, dachte er. „Bist du sicher, dass da keiner drin ist?“
„Na, logisch.“ Julian lachte. „Die alte Frau ist vor zwei Wochen gestorben. Das Haus ist leer und ihr Sohn hat schon alles rausgeholt, was er haben wollte.“
Sie waren zum Hintereingang gelaufen und die Tür zur Küche war tatsächlich offen. Es roch muffig und immer noch nach altem Mensch. Die Schranktüren waren geöffnet und es waren weder Vorräte noch Geschirr zu sehen. Der Kühlschrank, der hier gestanden haben musste, hatte eine helle Stelle auf dem Holzfußboden hinterlassen.
„Komm weiter“. Julian war ungeduldig und neugierig wie immer.
Der Dielenboden knarrte. Im Wohnzimmer standen eine abgewetzte hellbraune Couch mit Cordbezug und einige Sessel, die offenbar nicht zueinander gehörten. Der Lärm, den sie auf der Holztreppe zum ersten Stock verursachten, war dem Jungen unheimlich. Jeder hätte sich in diesem Lärm anschleichen oder sie einschließen können.
Im Schlafzimmerschrank der alten Frau fanden sie einen Haufen alter Briefe und Unterlagen. Die Briefe waren in Sütterlin geschrieben, einer alten deutschen Schrift, die keiner mehr benutzte. Der Junge ging weiter, während Julian sich noch kichernd durch alte Strickjacken wühlte. Im nächsten Zimmer standen ein kleiner, dunkel gebeizter Schreibtisch und ein Bücherschrank. Er sah sich die Bücher an. Viele waren in altdeutscher Druckschrift, die er nicht lesen konnte. „Hundert Jahre Einsamkeit“ von einem gewissen Gabriel Garcia Marquez schien neueren Datums zu sein und hatte einen ungewöhnlichen Titel. Es war 1975 in Berlin erschienen, beim „Verlag Volk und Welt“. Also in der „DDR“, die in der Bild-Zeitung, die sein Großvater gelegentlich las, immer in Anführungszeichen gesetzt wurde. Wahrscheinlich war das Buch in einem Päckchen „von drüben“ gewesen. Die Leute aus dem Westen schickten Kaffee und Strumpfhosen in den Osten und die Leute aus dem Osten schickten Bücher und Schallplatten in den Westen. Auf der Vorderseite war neben dem Titel nur eine rote Blume zusehen, sonst nichts.
Der Junge steckte das Buch in die hintere Tasche seiner Hose. Dann nahm er einen dicken Lederband aus dem Regal. Ein paar Ansichtskarten purzelten aus dem Buch.
„Was hast du da?“ Julian stand plötzlich in der Tür.
„Alte Postkarten“, antwortete der Junge und lächelte. „Sieh dir mal die Briefmarken an.“
Julian strahlte. Sie teilten die alten Karten aus der Kaiserzeit. Fast alles die üblichen grünen Fünf-Pfennig-Marken der Germania-Serie. Aber zusammen mit den schönen alten Karten könnte man sie an einen Flohmarkthändler verkaufen. Von dem Buch erzählte der Junge nichts. Er würde es vielleicht in den Ferien lesen oder verkaufen.
***
Eine Stunde später war der Junge auf dem Weg nach Hause. Die schwüle Hitze machte alle müde und träge. Er rollte mit seinem Fahrrad über den Marktplatz, wenigstens ging es die Bahnhofstraße bergab und der Fahrtwind würde sein Gesicht kühlen. Vor einem kleinen Geschäft stand Susi. Susanne Schweikhard saß in der Schule links neben ihm. Letzte Woche hatte sie ihm ein paar Briefmarken mitgebracht, es war sogar eine Marke aus Neuseeland dabei gewesen. Eigentlich war sie ganz nett, aber sie hatte eine operierte Hasenscharte.
„Hallo“.
„Hallo“, antwortete er mechanisch und hielt an.
„Heute ist Folkfestival.“
„Ich weiß“, antwortete er, obwohl es gelogen war. Er wusste gar nicht, um was es ging. Jedes Jahr trafen sich hier an Pfingsten junge Leute mit langen Haaren und Batik-Hemden, um Musik zu hören. Er musste sich nur umsehen: Buntebemalte VW-Busse und Renault-Kastenwagen, jede Menge Käfer und Kadetts, dazu ein knallroter Fiat 500 mit seinen Babyreifen.
„Ich wollte gerade hingehen. Kommst du mit?“
„Na klar.“ Kneifen wollte er auf keinen Fall. Ihm fiel auf, dass sie ein paar rote Strähnen in ihrem blonden Haar hatte. Eigentlich war es eher orange.
Er schloss sein Rad ab und folgte ihr über die Kreuzung.
Auf der anderen Seite war ein kleiner Pfad, der hinter der alten Burgmauer vorbei auf das Festgelände führte. Überall waren Oberschüler und Studenten, lachende Frauen und Leute mit Trommeln und Gitarren. Die Männer hatten Vollbärte oder wenigstens Schnurrbärte und manche trugen ihr Haar schulterlang, die Frauen trugen bunte Kleider und Cloggs. Auf dem Rasenstück zwischen Mauer und Weg hatten die Besucher Zelte aufgeschlagen, vor denen sie im Schneidersitz saßen und selbstgedrehte Zigaretten rauchten. Die ganze Szene wirkte auf ihn, als hätten sich mittelalterliche Gaukler, Sänger und Artisten hier an einem Hof versammelt.
Je weiter sie in das Getümmel vordrangen, desto unsicherer wurde der Junge. Er kannte keinen Menschen, aber Susanne teilte den Menschenstrom mit einer Sicherheit, als hätte sie ihr ganzes Leben in einer lärmenden Menge von Riesen verbracht. Es mussten tausende von Leuten sein. Alle schienen gleichzeitig zu sprechen, zu lachen und zu singen.
Dann hielt Susanne plötzlich an.
„Hallo Trixie“, begrüßte sie ein anderes Mädchen. „Das ist ein Schulfreund“, sagte sie und deutete auf den Jungen. „Und das ist meine Schwester.“
Trixie lächelte dem Jungen freundlich zu. Sie war mindestens 16 und trug eine lila Latzhose, die sie auf dem Schulhof noch nie getragen hatte.
„Ich hol uns mal was zu trinken“, sagte Susanne und war blitzschnell verschwunden.
Der Junge stand verlegen herum und sah zu Boden. Er fühlte sich völlig verloren und fragte sich, was er auf diesem Festival überhaupt machte. Minuten des Schweigens vergingen. Dann krächzte es unmittelbar neben ihnen. Die Leute drehten sich erschrocken um.
„Test. Test. Eins-zwei. Eins-zwei.“
Ein Musiker stellte die Anlage ein und klopfte auch gelegentlich bedeutsam gegen das Mikrophon.
Der Junge nutzte die Gelegenheit und schlich sich davon.
Er war erleichtert, als er wieder auf seinem Fahrrad saß und in die Pedale treten konnte.

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