Freitag, 26. Juni 2015

Rheinkind, Kapitel 11

Heiligabend. Der Junge saß allein am Wohnzimmertisch. Vor ihm lagen ein paar leere weiße Blätter und ein Kugelschreiber. Er wusste schon, wie er die Geschichte anfangen wollte: Der Mann aus dem Nachbarhaus ist ein gesuchter Mörder und ein Junge kommt ihm zufällig auf die Schliche. Aber er hatte noch keine Ahnung, wie die Geschichte ausgehen sollte. Wie würde der Junge Beweise finden, die den Mörder überführen? Seinen Worten allein würde die Polizei keinen Glauben schenken. Er musste also irgendwie in das Haus gelangen. Vielleicht gab es einen Hintereingang? Was wohl im Keller verborgen war? Er hatte bisher niemandem außer Nils von seinem Verdacht erzählt. Der Redakteur dürfte seinen Besuch vor einem Monat längst vergessen haben.
Was soll ich überhaupt machen, fragte sich der Junge und ließ den Stift wieder sinken. Er war gestern Nachmittag mit seiner Mutter in Klingelbach angekommen und hatte Herrn Sperber noch nicht gesehen. Wie würde es sein, ihm zu begegnen? Sicher kam er in den nächsten Tagen bei ihnen vorbei. Wenn er zum Kaffee bliebe, könnte der Junge sich vielleicht in sein Haus schleichen. Es lag kein Schnee und er würde keine Fußspuren im Garten hinterlassen.
Der Dezember war recht mild gewesen und als der Junge den ausklappbaren Kunststofftannenbaum auf dem kleinen Beistelltisch am Fenster sah, den seine Großmutter jedes Jahr aus dem Schrank im Dachgeschoss holte, kam noch keine Weihnachtsstimmung bei ihm auf. Erst am Abend würde der Baum eingeschaltet werden und die vielen bunten Lichter würden leuchten. Auch die Geschenke fehlten noch. Von seiner Mutter hatte er sich zwei Kassetten für seinen Radiorekorder gewünscht: AC/DC und Pink Floyd. Sex Pistols und Dead Kennedys hatte er sich nicht getraut, das hätte nur Diskussionen gegeben. Dazu noch einen Büchergutschein für die Buchhandlung in Ingelheim. Von den Großeltern gab es wie üblich Süßigkeiten, Unterwäsche und zwanzig Mark in bar. Von der anderen Großmutter würde ein Päckchen gleichen Inhalts versandt werden, sie verbrachte Weihnachten bei ihrem Bruder in Bonn.
Er dachte an Karin. Sie schien sich gar nicht mehr an den Abend zu erinnern. In der Schule verhielt sie sich so, als ob nichts gewesen wäre. Sie quatschte in der Pause mit den anderen Mädchen und er stand auf dem Schulhof mit Julian und anderen Jungs zusammen. Was soll’s, dachte er. Welcher Junge in meiner Klasse hat schon eine Freundin? Selbst Udo und die anderen, die ein Jahr älter waren, redeten nur über das Thema. In einer Woche beginnt nicht nur ein neues Jahr, sondern ein neues Jahrzehnt. Was ich wohl in zehn Jahren mache? Dann bin ich fast 25 Jahre alt. Wahrscheinlich habe ich eine Wohnung, ein Auto und arbeite irgendetwas. In der Firma? Und wenn er ganz weit weg leben würde? In Berlin? In Kreuzberg? Ende 1989 in Kreuzberg – das wäre unheimlich cool. Vielleicht würde er sogar selbst etwas auf die Berliner Mauer schreiben. Etwas Eigenes, keine Parole.
„Mittagessen“, rief die Großmutter aus der Küche und der Junge sprang sofort auf. Er hatte einen Riesenhunger. Inzwischen war er ein Meter fünfundsechzig groß und nicht mehr ganz so dünn wie am Jahresanfang.
Es gab Schweinebraten mit Salzkartoffeln und Wirsinggemüse. Am Abend würde es Würstchen und Kartoffelsalat geben. Dann würde auch die alte Musiktruhe wieder einmal in Betrieb genommen werden, um die Weihnachtsplatte abspielen zu können. Die Schallplatten seiner Großeltern waren winzig und uralt, Fred Bertelsmann und sein lachender Vagabund. An dieses Lachen konnte er sich noch dunkel erinnern. Vielleicht wurde die Platte früher gespielt, wenn Besuch kam. Seine früheste musikalische Erinnerung war die raue Stimme Adriano Celentanos: Una Festa Sui Prati.
Nach dem Essen verzog sich der Großvater ins Wohnzimmer, um seine Handelsgold zu rauchen. Sie lag bereits, noch mit Bauchbinde, auf dem Rand eines Aschenbechers mit der Aufschrift „Asbach Uralt“. Mutter und Großmutter hatten in der Küche zu tun, schließlich galt es für die nächsten Tage einiges vorzubereiten. Der Junge verzog sich ins Dachgeschoss und legte sich auf das große Bett im Schlafzimmer. Er hatte keine Lust, mit seinen Modellschiffen und Soldaten zu spielen. Es gab so viele andere Dinge, die ihn beschäftigten. Er dachte an Silvester. Vielleicht könnte er mit Julian etwas unternehmen. Er war dann schließlich schon fünfzehn, da konnte man das Feuerwerk ruhig mal woanders anschauen als auf dem Balkon mit seiner Mutter. In ein paar Tagen hatte er Geburtstag. Wegen der ungünstigen Lage im Kalender gab es eigentlich nie eine besondere Feier. Die Weihnachtsgeschenke waren immer auch Geburtstagsgeschenke. Aber an Ostern würde es wieder etwas geben. Sein Vater hatte sich noch gar nicht gemeldet. Entweder er kam überraschend vorbei oder es würde ein Paket in der Ingelheimer Post auf ihn warten. Man wusste es nie. Leider hatten die Großeltern kein Telefon, so dass er nicht Bescheid sagen konnte, ob er käme. Und dann war der Junge eingenickt.
***
Gegen drei Uhr wachte er auf und ging die Treppe hinunter. Die Mieterin aus dem ersten Stock, eine pensionierte Lehrerin, die der Großvater wegen ihrer hochnäsigen Art nicht leiden konnte, war bereits gestern zu ihren Kindern nach Karlsruhe abgereist. Im Flur stand seine Mutter und zog sich gerade ihren tannengrünen Mantel an. Der Großvater setzte seine Schiebermütze auf und steckte sein Stofftaschentuch in die Manteltasche. Er trug schwarze halbhohe Lederschuhe mit meterlangen Schnürsenkeln. Der Junge hatte seinen Großvater nie in anderen Schuhen gesehen. Die Großmutter trug Kopftuch und Schal, obwohl es nicht kalt draußen war.
„Wir fahren zum Kaffee zu Gemmers rüber. Kommst du mit?“ fragte seine Mutter.
„Nö, keine Lust“, antwortete der Junge. „Ich bleibe lieber hier, vielleicht gibt es ja was im Fernsehen.“
Er hatte die Verwandten in Oberfischbach schon häufiger besucht, das Dorf war nicht allzu weit entfernt. Jeder in der Gegend kannte die Geschichte: Bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte es Oberfischbach, Mittelfischbach und Niederfischbach gegeben. Niederfischbach wurde von seinen Bewohnern aufgegeben, die komplett nach Amerika ausgewandert waren.
„Geh doch lieber mal zu deinem Nachbarn rüber. Herr Sperber hat ein Geschenk für dich.“
„Ein Geschenk?“ fragte der Junge. Er war überrascht, so plötzlich von diesem Mann zu hören.
„Ja“, schaltete sich seine Großmutter ein. „Er ist hier gewesen und hat gesagt, er hätte ganz tolle Briefmarken für dich. Australische Sondermarken und alte chinesische Marken aus dem Kaiserreich.“
„Er freut sich bestimmt über deinen Besuch, schließlich ist er an den Feiertagen ja ganz allein“, sagte seine Mutter. „Wir sind gegen achtzehn Uhr wieder hier. Dann machen wir Bescherung.“
„Und nicht das Haus nach den Geschenken absuchen, hast du verstanden?“ fragte seine Großmutter.
Als ob ich noch wie ein kleiner Junge die Schränke durchwühle, dachte der Junge. Fehlt nur noch, dass sie mir das Versprechen abnimmt, nicht mit Feuer zu spielen. Aber er konnte ihr nicht böse sein. Sie war ein vorsichtiger Mensch und es waren ihre Erfahrungen, die sie vorsichtig machten. Sie war 1904 geboren und hatte ihre Eltern während der Spanischen Grippe nach dem Ersten Weltkrieg verloren. Etwa in meinem Alter muss sie gewesen sein, dachte der Junge, als sie als Magd auf einen Bauernhof kam. Eine Kuh stach ihr das rechte Auge aus, seither trug sie ein Glasauge. Sie kam in eine Augenklinik und blieb dort als Hilfskrankenschwester, bis mein Großvater sie kennenlernte. Nach der Hochzeit war sie, wie damals üblich, Hausfrau geworden und hatte sich um die Kinder gekümmert. Seine Mutter hatte noch einen Bruder gehabt, aber der war schon als Zweijähriger an Blinddarmentzündung gestorben. Im Wohnzimmer und im Flur hingen alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die das Kind zeigten. Wenn es seiner Großmutter schlecht ging, klagte sie immer ihrem kleinen Walter ihr Leid. Jede Woche besuchte sie das kleine Kindergrab auf dem Dorffriedhof. Er war auf gewisse Weise immer bei ihr, wie der stumme leblose Mond, der die Erde umkreiste. Der Junge hatte sich nie getraut, über dieses Kind und ihren Schmerz Fragen zu stellen.
Er hörte, wie der Wagen vom Hof rollte und die Straße hinunter fuhr. Jetzt war er allein. Sollte er wirklich zu Sperber hinüber gehen? Der Mann war gefährlich. Andererseits wusste er nicht, was der Junge wusste. Sperber war ahnungslos und er konnte vielleicht etwas heraus bekommen. Eine Weile stand er unschlüssig im Flur, dann zog er sich Jacke und Schuhe an.
Auf der Straße war niemand zu sehen. Die kahlen Bäume wirkten schwarz unter dem sonnenlosen Himmel.
Er klingelte an der Haustür und hörte, wie sich Schritte näherten.
Sperber öffnete die Tür und begrüßte ihn mit einem schiefen Grinsen. „Hallo, Junge. Hat dir deine Oma von den Briefmarken erzählt?“
„Ja“, sagte der Junge und zögerte. Der Blick des Mannes passte nicht zu dem breiten Lächeln, das er jetzt versuchte.
„Magst du Cola?“ Herr Sperber machte eine einladende Geste und trat zur Seite.
„Klar“, sagte der Junge. Es war zu spät. Jetzt musste er auch weitermachen. Dabei interessierten ihn die Briefmarken immer weniger. Im letzten Monat hatte er sich die Sondermarken zu Doktor Faust, zum Energiesparen und eine Weihnachtsmarke gekauft. Er überlegte ernsthaft, ob er sich von seinem knappen Taschengeld überhaupt noch Sondermarken kaufen sollte. Tauschgeschäfte würden es nächstes Jahr auch tun und er hatte wenigstens den Jahrgang 1979 komplett. Das war für den Wiederverkauf sehr wichtig.
Als der Junge sich auf das Sofa setzte, sah er ein paar Blätter auf dem Wohnzimmertisch liegen.
Seine Geschichte!
Herr Sperber setzte sich ganz ruhig in den Sessel und sah den Jungen an.
Der Junge wusste nicht, was er machen sollte.
Auf dem Tisch stand ein Glas Cola.
Herr Sperber deutete auf das Glas. „Willst du nichts trinken?“
Der Junge schüttelte stumm den Kopf. Er musste daran denken, was ihm der Redakteur über Valium in Cocktails erzählt hatte.
„Deine Großmutter hat mir neulich deine Kurzgeschichte in der Schülerzeitung gezeigt. Du hast eine Menge Phantasie. Und heute, als ich nur frohe Weihnachten wünschen wollte, zeigt sie mir doch tatsächlich diesen Text.“ Er deutete auf die Blätter. „Da verdächtigst du also den Nachbarn, ein gesuchter Frauenmörder zu sein, was?!“
Der Junge saß in der Falle. Was konnte er tun? Schreien? Niemand würde ihn hören. Das nächste bewohnte Haus war weit weg und seine Familie war nicht zu Hause. Ich muss reden, dachte er, und Zeit gewinnen. „Ich habe so eine ähnliche Geschichte in der Neuen Post gelesen.“
„Einen Scheiß hast du.“ Sperber schob den mächtigen Unterkiefer nach vorne. „Wem hast du noch davon erzählt?“
„Was soll ich denn erzählt haben?“
„Von dem Fahndungsplakat zum Beispiel“. Sperber war aufgesprungen.
Der Junge sah ihn ängstlich an. Was sollte er jetzt machen? „Ich habe keinem Menschen etwas erzählt, ich schwöre es.“
Der Fausthieb traf ihn unvermittelt an der Schläfe. Alles drehte sich, er taumelte und fiel. Alles wurde schwarz und er hörte nichts außer einem fernen Rauschen. Dann wurde er bewusstlos.
Sperber hob ihn auf seine rechte Schulter und trug ihn die Treppe hinauf in die Küche. Alles würde wie ein Unfall aussehen. Der Junge war im oberen Stockwerk in der Küche gewesen, als das Feuer ausbrach. Er konnte nicht mehr die Treppe hinunter und durch die Tür ins Freie. Das würde für die dämliche Bauernpolizei in dieser Gegend reichen.
Er ging in die Garage und holte zwei Benzinkanister ins Haus. Im Wohnzimmer schüttete er das Benzin über die Möbel und Vorhänge. Außerdem legte er eine Spur durch alle Räume des Erdgeschosses und die Kellertreppe hinab.
Ich muss wieder ganz von vorne anfangen, dachte Sperber.
Dann zündete er ein Streichholz an.
***
Ein heiseres Schreien wie von einem Raubvogel. Es war so unnatürlich laut, dass der Junge erschreckt die Augen öffnete.
Sein Kopf schmerzte.
Er erhob sich langsam.
Waren das wirklich Schreie?
Er ging auf den Flur und sah die Treppe hinunter. Es brannte.
Und durch das Feuer raste der brennende Mörder.
Ich muss hier raus, dachte der Junge und lief in die Küche zurück.
Aus dem Fenster!
Das Haus stand an einem Hang und der Sprung auf den Rasen sollte vom ersten Stock aus zu schaffen sein. Es gab keinen anderen Weg nach draußen.
Er kletterte auf das Fensterbrett und ließ sich langsam ab, bis er nur noch mit den Händen am Sims hing. Dann blickte er nach unten. Es sah immer noch tief aus. Dann blickte er zur Seite und sah Qualm aus einem Fenster im Erdgeschoss dringen.
Er ließ sich fallen.
Einen Augenblick später rollte er über den Rasen. Nichts war passiert.
Nur weg hier, dachte er, als zur Straße lief.
Da gab es eine gewaltige Explosion.
Es war, als seien alle Farben und Geräusche plötzlich durch einen Strohhalm aus seinem Kopf gesaugt worden.
Dunkelheit.
Stille.

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