Montag, 25. Mai 2015

Eine Reise ins Berlin des Jahres 1969

„Wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte mutet es an, dass gerade unser Volk von nichts so liebevoll schwärmt wie von der Gemütlichkeit, die ihm in Wirklichkeit so fernliegt wie kaum einem anderen Volk. Auf Schritt und Tritt möchte man bei uns gemütlich sein, und ist doch auf Schritt und Tritt so ungemütlich wie kaum ein anderes Land der Erde!“ (Hans Eberhard Friedrich: Deutschland)
Während ich darauf warte, dass der Gruyère im Ofen auf meinem Kartoffelgratin (sprich: Gratäng!) schmilzt, schlendere ich durch das Esszimmer in die angrenzende Bibliothek. Ich stöbere ein wenig in den Regalen. Und was finde ich? Einen Deutschland-Reiseführer aus fernen Tagen. Im allgemeinen Teil wird die Wechselhaftigkeit des deutschen Wetters beklagt und wir erfahren, „dass der schönste deutsche Reisemonat der September zu sein pflegt“. Offensichtlich war die alte Bundesrepublik so reich wie die neue: „Da man in Deutschland alles zu kaufen bekommt, was man sich wünscht (außer dem, ‚was nicht gefragt ist‘, wie zumeist die alberne Antwort lautet, wenn man in einem Geschäft etwas verlangt, was es nicht hat), so braucht man eigentlich nur Geld mitzunehmen.“ Wie erfreulich! Ich blättere weiter: Berlin.
Damals bestand die Stadt nicht nur aus Zugereisten, die Hauptstadt spielen, sondern aus Menschen, die eine bestimmte Mentalität, einen typischen Charakter, eine „Eigenart“ hatten: eine „Mischung aus ruheloser Vitalität mit ‚jemütlichster Jelassenheit‘, aus einer unaufdringlichen, selbstverständlichen Korrektheit und Pflichterfüllung mit lässiger ‚Wurschtigkeit, aus blitzgescheiter, schnellauffassender Nüchternheit mit einer rührend naiven ‚Gefühligkeit‘.“ Das Kapitel „Berliner Menschen“ beginnt mit der Formulierung: „Charakteristisch für Berlins Atmosphäre waren früher in hohem Maße seine Frauen, die flotten, wortgewandten, kessen“.
Es ist 1969, Berlin ist geteilt, und der Autor schreibt, „dass der Lebensatem der großen, verwundeten Stadt doch recht kurz und schwach geworden ist.“ Das Wirtschaftswunderland im Westen hat seine alte Hauptstadt offenbar vergessen. „Herzensträgheit“ wirft er seinen westdeutschen Lesern vor und droht ihnen unverhohlen: „Diejenigen, die dort geblieben sind, werden es den eifrigen Rückkehrern und Geschäftemachern eines Tages nicht leichtmachen, zumindest nicht, was das Herz angeht, wenn Berlin wieder Hauptstadt geworden ist – und wer möchte, trotz Bonn und seiner pompösen Bauten, daran zweifeln?“
Die Berliner Architektur ist von der „Geschmacklosigkeit“ der spätwilhelminischen Epoche geprägt, deren Symbol die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in der West-City ist. „Wüste Neoromantik“. Treffer, versenkt! „Zu ihrer beunruhigenden Leblosigkeit trägt ihr massiver, heute etwas düsterer Wohlhabenheitscharakter von einst bei“. Wer schreibt heute noch solche Reiseführer? Keine Adressen, keine Öffnungszeiten, keine „heißen Tipps“. Dafür seitenlange Schilderungen der Stadt und ihrer Geschichte, die einmal die größte Industriestadt und der größte Binnenhafen Europas war. „ Das wahre Hinterland Berlins war nicht die märkische Umgebung, sondern war ganz Deutschland, das von ihm seine stärksten und anregendsten (…) Impulse erhielt.“
Der einzige Fernbahnhof der einstmals pulsierenden Metropole ist der Bahnhof Zoo, „der früher nur ein Durchgangsbahnhof für die Ost-West-Verbindung (Schlesischer Bahnhof, Bahnhof Friedrichstraße, Bahnhof Zoo, Bahnhof Charlottenburg) war.“ Und „die Reisenden unterliegen der volkspolizeilichen Kontrollen in der Sowjetzone: er atmet kein Fernweh, er ist kaum mehr vom Weltverkehr erfüllt.“ Dafür hat West-Berlin inzwischen mit Tempelhof einen Flughafen, „den freilich nur wenige internationale Luftlinien anfliegen. Irgendwie besitzt der Flugverkehr auch nicht jene unaussprechliche Atmosphäre, die die großen Bahnhöfe erfüllt.“ Wohl gesprochen, guter Mann!
Er zitiert einen noch älteren Reiseführer, in dem es über die Stadt Leipzig unter der Rubrik „Was tut man am Abend?“ so schön heißt: „Man besteigt einen D-Zug und fährt nach Berlin.“ Der echte Berliner, so erfahren wir, bleibt jedoch am Abend zu Hause. „Das Berliner Nachtleben schien im Wesentlichen für die Provinz und für die Ausländer da zu sein.“ Der Berliner hat in seiner Straße genug Unterhaltung – seiner Schlagfertigkeit, seines Mutterwitzes und seiner Kessheit sei Dank. O-Ton 1969: „Wat denn, wat denn, nu ma sachte! Du hast woll schon lange nich mehr aus nem Krankenhausfenster rausjekiekt, wa?“
Was soll man sich in Berlin anschauen? Der Autor rät von Ku’damm und der Siegessäule, „die trotz ihrer Hässlichkeit ein Wahrzeichen Berlins geworden ist“, ab, lobt jedoch das Shell-Haus (mein Berliner Lieblingsgebäude! Habe nebenan ein paar Jahre gearbeitet), die Gedenkstätte Plötzensee und die Ruine des Anhalter Bahnhofs. Man solle sich den Grunewald und seine Seen anschauen, Lübars, die Vielfalt der Berliner Fassaden erbummeln und auch mal den „neuen“ Teilen Berlins wie der Gropiusstadt oder dem Märkischen Viertel einen Besuch abstatten. Den Reichstag und wenigstens ein Schloss sollte man besichtigen und vom Springer-Hochhaus einen Blick auf die Grenzanlagen der Berliner Mauer werfen. Insgesamt sei Berlin „ein unerhörtes Konglomerat von Stilversuchen“. Zu allen Zeiten habe man versucht, der Stadt architektonische Symbole zu verpassen – wovon sich die unerschütterliche Stadt aber nicht unterkriegen lasse.
Hans Eberhard Friedrich, der von 1928 bis 1941 selbst in Berlin gelebt hat, schreibt mit unverhohlenem Pathos: „Wenn eines Tages Berlin wieder die Hauptstadt Deutschlands sein wird, so werden die etwas treulosen Bundesdeutschen mit dem gleichen Eifer dorthin eilen, wie sie es früher getan haben, und werden sich bei den Berlinern beliebt zu machen suchen, indem sie bewundernd erklären, was sie, die Berliner, doch für tüchtige Kerle seien. So aber, wie ich die Berliner kenne, werden sie dann nicht nachtragend sein, sondern mit derbem Humor antworten: ‚Rutsch mir den Buckel lang!‘“
P.S.: Zwei Zitate noch aus der Einleitung des Reiseführers „Deutschland“. Erstens „übertrumpft bei uns Deutschen das Großsprecherische, das Marktschreierische nur zu oft die bescheidene Größe, die zurückhaltende Anonymität aller derjenigen, die eigentlich das geschaffen haben, was dieses, unser so problematisches Deutschland zu einem unbegreiflich wunderbaren Erlebnis macht“. „Und zu zwei Dingen fordert Deutschland geradezu heraus: Zum Wandern und Spazierengehen, also zum stillen Genuss der Natur, und zum Ferienmachen mit Kindern“. Nächsten Monat fahre ich wieder nach Franken – und dann nach Berlin.
P.P.S.: Im Buch wird auch eine Meinungsumfrage aus dem Jahr 1968 zitiert, die in West-Deutschland durchgeführt wurde. 62 Prozent der Befragten hielten die Berliner für humorvoll - aber nur 12 Prozent glaubten, ihre eigenen Landsleute hätten Humor. Die Bundesbürger schätzen die Berliner damals als schlagfertig (62 Prozent, BRD: 7 Prozent), politisch interessiert (59 Prozent, BRD: 30 Prozent) und aufgeschlossen (50 Prozent, BRD: 26 Prozent) ein. Nur ein Prozent der Befragten beurteilten die Berliner als „satt und träge“ – gegenüber 42 Prozent, die sich selbst dieses Etikett gaben.
Fischer-Z – Berlin. https://www.youtube.com/watch?v=jkkYsG8Z9do

2 Kommentare:

  1. Am Freitag bei Lidl, zwei Handwerkskollegen an der Kasse, der Erste ist abkassiert, beim Zweiten schlägt die Sirene der Sicherheitschleuse an. O-Ton vom Ersten laut und allgemein vernehmlich: "Siehste, ick hab da doch schon immer jesacht bei dir piept dit!"

    Made my day ;-)

    Hochzeit bei Zickenschulze: https://www.youtube.com/watch?v=k2PxCJdungQ

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Schön! Der Klassiker ist ja das Lied von Bolle. Haben wir am Rhein sogar im Musikunterricht durchgenommen.

      https://www.youtube.com/watch?v=HlN25CK2VDk

      Löschen