Dienstag, 31. März 2015

Über das Schreiben

„Die Literatur ist die angenehmste Art und Weise, das Leben zu ignorieren.“ (Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe)
„Dichter: erhälst Du den Beifall des Volkes, so frage Dich: was habe ich schlecht gemacht?! Erhält ihn auch Dein zweites Buch, so wirf die Feder fort: Du kannst nie ein Großer werden. Denn das Volk kennt Kunst nur in Verbindung mit –dünger und –honig.“ (Arno Schmidt: Brand’s Haide)
„Ein Schriftsteller (…) muss dosieren können, was er vom Leben empfängt, er muss nach Belieben den Leitungshahn Leben und den Leitungshahn Arbeit aufdrehen und schließen können. (…) Deswegen darf man von niemandem abhängig sein, mit niemandem zusammenwohnen, keine geschäftlichen Obliegenheiten haben. (…) Das Leben ist meine Gattin, und die Bücher, die ich ihm abgewinne, sind meine Kinder.“ (Henry de Montherlant: Der Dämon des Guten)

Polen

„Als wir noch dünner waren, standen wir uns näher.“ (Georg Kreisler)
Wir saßen in einem bayrischen Lokal in Berlin, wo uns eine ältere russische Kellnerin mit Bier versorgte. Unser Thema: Reiseziele. Und da wir dicke alte Männer sind, sollten keine anstrengenden Langstreckenflüge auf briefmarkengroßen Sitzen, für die man mit Impfungen und Thrombosestrümpfen vorbereitet sein muss, zwischen uns und dem Zielort zu bewältigen sein. Und so kamen wir irgendwann auf Polen.
N., ein bekennender Kartenfetischist, in dessen Wohnung – selbst im Badezimmer – riesige Landkarten hängen, auf denen die Reiseziele farbig markiert sind, die er bereits besucht hat (und zu einigen Destinationen können Sie sogar Reiseführer kaufen, die er veröffentlicht hat), brachte gegen Polen das Argument vor, es sähe auf der Landkarte langweilig aus: viereckig, kastenartig, brotförmig. Wie schön hingegen sei Italien geformt. Ein exzentrisches Argument, zugegeben – aber es hat mir gefallen.
Meine Argumente gegen Polen sind ganz anderer Natur, gewöhnlicher, weniger abstrakt. Fangen wir mit Essen und Trinken an: Was hat uns Polen kulinarisch zu bieten? Was fällt uns spontan ein: nichts. Italien hat die Pizza, Japan Sushi – bei Polen komme ich auf nichts Landestypisches. Gibt es außerhalb Polens überhaupt polnische Restaurants? Dann das Wetter: Es ist genauso wie bei uns. Die Wälder, das Mittelgebirge im Südwesten des Landes, der Ostseestrand. Haben wir alles baugleich in Deutschland. Kommen wir zur Hauptstadt Warschau: Welches Gebäude, welcher Platz fällt Ihnen spontan ein? Paris: Eiffelturm. London: Tower Bridge. Sydney: Oper. Aber Warschau? Dazu habe ich kein Bild im Kopf.
Ich war dreimal für jeweils ein paar Tage in Polen. Erst Stettin plus Ostsee, dann Krakau, später Breslau. Es hat mir gefallen, die Leute waren sehr freundlich. Aber das war’s auch. N. will überhaupt nicht hin. Wir stoßen mit unseren Steinkrügen an und beschließen, im Mai nach Franken zu fahren.
The Knack - My Sharona. https://www.youtube.com/watch?v=aRmEa8hv6iU

Grand Tour

Die Grand Tour, auch Kavalierreise genannt, ist seit dem späten 17. Jahrhundert ein Initiationsritus des Adels und des Großbürgertums. Der männliche Nachwuchs soll in einer mehrjährigen Bildungsreise durch Europa seinen Horizont erweitern, Erfahrungen sammeln und sich „die Hörner abstoßen“, um im Anschluss als gereifter Mensch seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Die bedeutendsten Ziele der Grand Tour waren Paris und die Mittelmeerküste (Marseille oder Nizza), die italienischen Städte Florenz, Venedig, Rom und Neapel sowie im deutschsprachigen Raum Wien, Berlin und Weimar. Heute fehlt die Zeit für diese Lehr- und Wanderjahre, man begnügt sich mit gelegentlichen kurzen Abstechern in die Kulturmetropolen. Welche Route würde man für eine solche Reise im 21. Jahrhundert wählen? Wo sind die wichtigsten Orte, an denen man die moderne Kultur besichtigen kann?

Montag, 30. März 2015

Restgedanken am Monatsende

Es gibt Berufe, von den man mit Zwanzig träumt – und mit Fünfzig ist man froh, dass man sie nicht ergriffen hat. Rockmusiker zum Beispiel. Neulich habe ich den Terminkalender eines Profis gesehen, der von seinen Auftritten leben kann, aber nie einen Plattenvertrag bekommen hat oder im Fernsehen aufgetreten ist. Dreißig Gigs in dreißig Tagen. Provinz, billige Hotels, gerade hat mal wieder eine Frau mit ihm Schluss gemacht, weil er sowieso nie zu Hause ist. So was ist in meinem Alter kein Spaß.
Was die empirische Sozialforschung nicht erklären kann: 99 Prozent aller Menschen halten sich für überdurchschnittlich intelligent.
Jetzt saß er da, in einer Mischung aus Bourbon und Selbstmitleid, und seine Gedanken trugen ihn in die Vergangenheit.
„Immer schön mit der Herde schwimmen.“ (Johnny Malta)
P.S.: Und das war die Drogenmusik meiner Jugend … Brainticket: Cottonwood Hill. Von 1971. Lief bei uns in der Provinz aber auch noch in den achtziger Jahren. Und der Bandleader heißt Joël Vandroogenbroeck – kein Witz. https://www.youtube.com/watch?v=l3nepy_SkwM

Erkenntnis

„Ich bestellte Schreibzeug, um meine Lage zu schildern.“ (Ror Wolf: Die Vorzüge der Dunkelheit)
Ich habe es gleich kommen sehen und so ist es dann auch gekommen. Eigentlich war es sonnenklar. Im Nachhinein muss man sagen: Zwangsläufig endet eine solche Sache eben genauso. Es ist ja auch nicht das erste Mal. Ich habe das schon öfter erlebt. Du weißt von Anfang an, dass nichts aus der Sache werden wird. Ich habe es auch sofort angesprochen. Ich habe gesagt, dass ich kein gutes Gefühl habe. Und meine Intuition täuscht mich eigentlich nie. Je näher der Zeitpunkt gekommen ist, umso klarer ist mir alles geworden. Es ist immer das gleiche. Warum sollte es diesmal anders sein? Schließlich ändern sich diese Dinge nie. In hundert Jahren nicht. Es hat schon nicht geklappt, als ich noch viel jünger war. Wieso sollte es ausgerechnet jetzt klappen? Ich frage mich natürlich in diesem Augenblick, warum ich es überhaupt gemacht habe. Wenn ich doch weiß, dass nichts daraus wird. Ich habe es doch kommen sehen, oder? Also muss ich mich auch nicht wundern, wenn es dann so kommt. Es ist immer dasselbe.

Spaziergang

Ich beschloss, das Haus zu verlassen.
Ich nahm also Leder und machte mir Schuhe.
Ich nahm Stoff und nähte mir Kleidung.
Ich machte Teig und buk ein Brot.
Ich formte einen Krug aus Ton, brannte ihn und füllte Wasser hinein.
Ich schlug mit einem großen Hammer ein Loch in die Wand.
Ich nahm eine Axt und rodete das Dickicht vor meinem Haus.
Am ersten Tag kam ich fünf Meter weit.

Sonntag, 29. März 2015

Der Traum von Europa

Der Recaro-Sitz ist der Thron des kleinen Mannes. Herr van Peutel fährt jeden Morgen mit seinem Opel Corsa in eine hellgrau gestrichene Fabrik im Industriegebiet von Utrecht. Dort wird tiefgefrorener Hering, der aus Portugal in Lkws angeliefert wird, in kleine rechteckige Blöcke geschnitten und frittiert. Anschließend kommt ein Plastikstab hinein und die einzelnen Stücke werden in bunte Folie verpackt. Man nennt es „Schuschliko“, was übersetzt „Fisch am Stiel“ heißt, und ist eine slowenische Spezialität. Für den dortigen Markt produziert die Fabrik. Herr van Peutel würde so einen Mist nie essen. Er mag keinen Fisch und kann den Geruch nicht ausstehen. Er hat nach der Schule eine Lehre als Industriemechaniker gemacht, aber irgendwann in seinem alten Beruf keine Arbeit mehr gefunden.
Frau van Peutel arbeitet in einem mit EU-Mitteln geförderten Projekt zum Schutz von behinderten Katzen. Sie geht jeden Morgen in den Stadtpark von Zwolle und streichelt behinderte und kranke Katzen. Sie füttert auch blinde Tiere mit Katzenfutter und verabreicht den Katzen im Park Medikamente. Sie mag Tiere und wählt alle vier Jahre die ATPN (Atheistische Tierschutzpartei der Niederlande). Herr van Peutel geht nicht wählen. Er trinkt am Abend Dosenbier und sieht sich die Fußballübertragungen am Wochenende an. Sie leben in einer Mietwohnung in Oldebroek, etwas außerhalb von Zwolle, und haben keine Kinder. Sie sind Mitte vierzig und möchten gerne einmal im Leben mit dem Wohnmobil quer durch Amerika fahren. Frau van Peutel hätte gerne eine Perserkatze, aber ihr Mann ist gegen Katzenhaare allergisch.
Das Ehepaar van Peutel ist für die große Unterhaltungsshow „Das Millionenloch“ im holländischen Fernsehen ausgewählt worden. In dieser Show können die Kandidaten bis zu 100.000 Euro gewinnen. Das Spiel geht so: Der Ehemann steckt seinen linken Arm in ein Loch. In der ersten Runde nur die Hand, dann den halben Unterarm, danach den ganzen Unterarm usw. Die Kandidaten wissen nicht, was mit dem Arm passiert, aber die Zuschauer sehen es. Er wird Hitze oder Kälte ausgesetzt, mehr oder weniger ekelhafte Tiere berühren es, er kommt mit Hundekot oder einem prominenten Überraschungsgast in Berührung. Die Frau entscheidet, ob man noch eine Runde weiterspielt. Der Mann beschreibt seine Gefühle, schreit vor Schmerz oder lacht, wenn er gekitzelt wird. Am Samstagabend ist es so weit. Lieke und Jaap van Peutel sind schon ganz aufgeregt und haben sich vorgenommen, bis zum Ende mitzuspielen – egal was passiert.
Blondie – Rapture. https://www.youtube.com/watch?v=NSEzsS55XsE

Auswärtsspiel: Weddingweiser 2

Kennen Sie den „Deichgraf“, das Stammlokal des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf im Wedding? Hier ist meine Restaurantkritik:
https://weddingweiser.wordpress.com/2015/03/28/deichgraf-berlin-wie-es-eigentlich-ist/

Samstag, 28. März 2015

Abenddämmerung, Fragmente

„Where the stumblers gonna go / To watch the lights turn blue?“ (Frank Zappa: Village of the Sun)
Gelächter brandet in mächtigen Wellen aus den offenen Wirtshausfenstern, als ich gegen Abend das Bräustüberl betrete. Zur Begrüßung wird mir von Toni Stöpsel ein „Alles senkrecht?!“ entgegengeschmettert, was ich mit einem lässigen „Einwandfrei“ souverän quittiere. Toni Stöpsel ist ziemlich klein und man kann in seine Nasenlöcher hineinschauen wie bei einem Totenkopf. Er sitzt mit ein paar anderen jungen Leuten am Tisch neben dem Eingang: Fred Zaunmelker, Werner Buchwitz, Lothar Schattenmacher und, den Glanz der Runde vervollkommnend, der dicke Metzgersohn Heinrich Nübel. Die Würfel kreisen, es geht um Schnäpse und die Jungs tragen alle ein rotes T-Shirt, auf dem „Elwetritsche“ steht. Dieses pfälzische Fabelwesen hat ihrem Stammtisch seinen Namen gegeben.
Am Tresen stehen Alfred Kästrommler, Herbert Stranzl, Ferdinand Zierschüssel und der Schlangenpeter, der seinen Namen einer Schlange verdankt, die er vor vielen Jahren in seiner Wohnung gehalten hat. Vor den bewährten Tresenkräften, der Hautevolee der örtlichen Trinkerschaft, stehen vier Schoppen und neben den Gläsern liegen Zigarettenschachteln und Feuerzeuge.
„Wie geht’s?“ fragt Alfred. Das lange schmale rote, um nicht zu sagen backsteinartige Gesicht leuchtet kurz auf.
„Schlechten Leuten geht es immer gut“, antworte ich und hieve mich auf den letzten freien Barhocker.
„Hey, Turtle“, begrüßt mich die Wirtin lachend. „Schoppen?“
„Wie immer.“
„Und sonst?“
„Stabil“.
Seit ich einmal vor Lachen vom Barhocker gefallen bin und hilflos mit den Gliedmaßen rudernd wie eine Schildkröte auf dem Boden lag, bis zwei kräftige Burschen mich wieder aufgerichtet hatten, nennt mich die Wirtin „Turtle“. Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass ich latent adipös bin.
Erika Betz, die Wirtin, verströmt den gleichen welken Zauber und verblichenen Glanz wie das ganze Lokal. Ihre Raucherstimme schnarrt knarrend, sie lacht keuchend und ein lächerlich kleiner Brillant funkelt am rechten Nasenflügel der violett schillernden Runkelrübe. Als sie mir mein Schoppenglas reicht, sehe ich das rot geschwollene Fleisch ihrer Spülhände, an denen – tief eingesunken, ja eingewachsen – billige Ringe blinken.
Das Gebäude ist stilistisch eine Promenadenmischung aus Fachwerk, Aluminiumtür, Glasbausteinen und einem unverputzten Anbau aus grauen Hohlblocksteinen. An den Wänden sind nur Kleiderhaken, eine Dartscheibe und die satanisch glimmende Neonfackel einer Bierwerbung befestigt. Die ganze Inneneinrichtung strahlt eine geradezu malerische Trostlosigkeit aus. Vor dem Gasthaus steht ein kümmerliches und zerbrechlich wirkendes Bäumchen – sinnbildhaft und doch dem zechenden Volk gleichgültig.
Mit athletischem Schwung hebe ich das Glas an die Lippen und nehme einen großen Schluck. Astrein. Spitze. Es geht nichts über den ersten Schluck Wein.
Franz Kleinholz kommt von der Toilette, ein ausgewiesener Experte für Verdauungsprobleme. Er schlingert in den Gastraum hinein und hebt seinen didaktisch geschulten Zeigefinger, um einen weiteren Schoppen zu bestellen. Er ist ein Philanthrop reinsten Wassers und verbringt den Abend fast ausschließlich am Glücksspielautomat im hinteren Teil des Lokals, wo dieser scham- und würdelose Greis schwurbeligen Stumpfsinn vor sich hinmurmelt. Sein Lieblingsschimpfwort ist „Nuttenpreller“.
„Alles klar, Franz?“ rufe ich ihm entgegen, aber er hört wie immer nichts.
Die tiefschwarzen Falten in seinem Gesicht verbiegen sich, als er mir antwortet: „Was?“
Ich kann einen Blick auf die absurd gleichförmigen Zähne seines künstlichen Gebisses werfen.
„Schwerhörig und verheiratet – die perfekte Kombination“, ruft Herbert dazwischen.
Auflodernde Heiterkeit im ganzen Bräustüberl. Derlei mattschimmernde Thekenweisheiten gibt es hier jeden Abend dutzendfach zu hören.
Neben dem Tisch mit den jungen Männern gibt es noch den Tisch mit den Witwen: Maria Schnee, Petra Brunzhorst und Luise Rothermund. Gelegentlich spielen sie Skat. In einer Ecke läuft der Fernseher, der FCK spielt, der Lieblingsfußballclub des halben Dorfes, inzwischen in der zweiten Liga gelandet, um dort gegen traditionslose Mannschaften wie Sandhausen oder Aue antreten zu müssen.
Ein paar ältere Männer mit zerknitterten Cordhüten sehen sich das Spiel an und kommentieren es mehr oder weniger elaboriert mit Stöhnen, Schreien und kurzen Anweisungen an die Spieler. Dumpfes Murren wechselt mit Momenten geradezu gleißender Hellsichtigkeit („Es ist immer das gleiche“). Ernst Hundsbacher, Walter Silberblick, Erich Windfänger und der ehemalige Altkommunist Karl-Heinz Metzinger, ein Mann mit einem kuppelartigen Glatzkopf und kleinen listigen Augen. Es sind allesamt Weinbauern, was an den Weizenbiergläsern auf dem Tisch unschwer zu erkennen ist. Sie haben selbst die Keller voller Wein und würden im Gasthaus nie einen Schoppen bestellen. Und nach FCK-Toren gibt es grundsätzlich eine Runde Obstschnaps.
Rein soziologisch setzt sich das Wirtshausvolk aus Landwirten, Handwerkern, Früh- und Spätrentnern, Witwen und allerlei Jungvolk zusammen. Ruhelose Hamsterexistenzen der ubiquitären Angestelltenwelt meiden das Lokal, dessen Qualm- und Fettwolken die feinen Anzüge ruinieren und dessen Stammgäste zu Lärm und gelegentlichen Gewaltausbrüchen neigen und überhaupt.
„Wo ist denn Paul?“ frage ich in die Thekenrunde.
„Der ist schon gegangen“, sagt Alfred mit einem milden Lächeln.
„Warum ist er denn schon wieder weg?“
„Wegen nichts“, sagt Herbert, der mit dem unruhigen Eifer eines Eichhörnchens Erdnüsse in sich hinein frisst.
„Das ist doch keine Antwort“, sage ich.
„Wegen Gabi“, sagt Ferdinand.
„Wegen Gabi. Verstehe“, sage ich und wir trinken synchron einen Schluck. Natürlich habe ich nichts verstanden.
„Gabi war hier?“ versuche ich es wieder.
„Nein“, sagt der Schlangenpeter.
„Die kommt aber noch“, sagt Alfred.
„Mit Dieter“, sagt Herbert.
„Verstehe“, sage ich und jetzt habe ich es auch kapiert.
So sprechen sich die Dinge im Dorf herum.
Und so vergeht die Zeit.
Aus, aus, das Spiel ist aus! Die Bauern erheben sich und zahlen an der Theke. Allmählich leert sich die Gaststube. Der ewige Grantler Franz Kleinholz geht, dann der Schlangenpeter. Auch der Vogelschwarm der jungen Männer verlässt nach den fidelen Witwen mit den rotgemalten Mündern und den panierten Gesichtern das Bräustüberl.
Schließlich gehe ich auch, der Vollbluttrinker Alfred Kästrommler ist wie immer der letzte Gast. Finis operis. Tutto è passate. Fin de Siècle. This is the end my friend, Ultimo und am Arsch hängt der Hammer.
P.S.: Angesichts der „abortschüsselartigen Weltverhältnisse“ (Ror Wolf) bleiben mir nur „Parodien, des Scharfsinns letzte Zuflucht“ (Wladimir Nabokov).
P.P.S.: „Das Bewusstsein, dass du nichts bist als Fragmente, dass kurze und längere und längste Zeiten nichts als Fragmente sind … dass die Dauer von Städten und Ländern nichts als Fragmente sind … und die Erde Fragment …“ (Thomas Bernhard: Amras, S. 78)
P.P.S.: Ursprünglich trug der Text den Titel „Die Tücken der Eifel“. Nach Abschluss der Niederschrift stellte ich jedoch fest, dass weder Tücken noch Eifel darin vorkommen.
Thunderclap Newman - Something In The Air. https://www.youtube.com/watch?v=RTZoJ01FpD8

Freitag, 27. März 2015

Epiphanien, Teil 3

„In Berlin, mitten im Strudel und Getümmel und in all der Unruhe aufgeregten Weltstadtlebens, in angestrengter Geschäftigkeit und Tätigkeit, werde ich meine Ruhe finden.“ (Robert Walser)
Kluge Menschen sind nicht immer ernst. Ernste Menschen sind nicht immer klug.
Eine Freundin erzählt nach einer Israelreise von der dortigen Apartheid. Im Westjordanland gibt es zwei Straßensysteme, eines für die Juden und eines für die Araber. Oft werden jüdische Straßen mitten durch arabische Felder gebaut, die Straße darf von den Arabern aber nicht überquert werden. Die Juden schwelgen in Wasserreichtum und waschen ihre teuren Autos, den Arabern verdorren die Felder. Eine andere Freundin erzählt mir einen Tag später von einem Pressetermin mit Frau Barenboim in deren Villa in Dahlem. Sie erfährt zum ersten Mal von einem Kulturboykott Israels durch Künstler und Wissenschaftler aus alle Welt, ähnlich dem Boykott Südafrikas bis 1994.
Ich träume, dass ich als Berater einer Bank arbeite. Die Bank ist in einem Hochhaus und neben dem Hochhaus ist ein turmhohes Aquarium, in dem ein Riesenkrake schwimmt. Je mehr Geld die Bank verdient, umso größer wird der Krake. Ich bekomme für meine Arbeit eine Flasche Sekt und ein Kinderüberraschungsei am Tag. Ich rate dem Bankchef, der neu im Geschäft ist, immer nett zu den Kunden zu sein. Zumindest am Anfang, später kann man sie immer noch übers Ohr hauen. Außerdem soll er sich mal bei anderen Banken umhören, was die so den ganzen Tag machen. Ich erkläre ihm auch, wie man Berater bezahlt und was die so verlangen. Ich bin mir nicht sicher, ob es sinnvoll ist, solche Träume am nächsten Morgen aufzuschreiben.
Ranglisten und Hierarchien aller Art scheinen eine hohe Bedeutung für die Menschen zu haben. Welchen Finger Ihrer linken Hand mögen Sie am meisten, welchen am wenigsten? Machen Sie eine Rangliste!
„Wir sind immer in der Scheiße, nur die Tiefe ändert sich.“ (Spruch eines deutschen Gammlers, zitiert nach Margret Kosel: Gammler Beatniks Provos – die schleichende Revolution, Frankfurt/Main 1967, S. 84). Die jungen Aussteiger trafen sich damals an der Gedächtniskirche und der Hauptwache, Berlin und Frankfurt waren Zentren der Bewegung, die man später 68er nannte. Langhaarige Männer wurden in manchen Gasthäusern und Geschäften nicht bedient, Schlips und Rock waren obligatorischer Dresscode in Uni-Vorlesungen – die von Professoren in Talaren gehalten wurden.
Es ist kurz nach Sonnenaufgang, die Frauen schlafen noch, als zwei Männer in Unterhosen mit dem ersten Kaffee des Tages (pbc, wie es im Internet-Deutsch heißt) in der Küche einer Doppelhaushälfte ein gutes Gespräch über den täglichen Kampf ums Dasein mit Kunden und Kollegen führen, bei dem Begriffe wie Coopetition, Listbroking und Buzz-Marketing fallen (pbc heißt übrigens pre-breakfast-cup).
Mit dem Presse-Dauerausweis eines Freundes erschleiche ich mir den Zugang zur ITB. Wie einträchtig die Welt doch in den Berliner Messehallen auf den Touristen wirkt: Israels Stand friedlich umgeben von seinen arabischen Nachbarn, selbst die Ukraine, der Irak und das Kosovo locken die Reisenden mit eigenen Ständen und Prospektmaterial. Am prunkvollsten werben die Arabischen Emirate und Ägypten, dagegen wirken traditionelle Destinationen wie Spanien und Italien langweilig und ideenlos. Ich nehme nur am Franken-Stand einige Prospekte mit, mein einziges Ziel 2015.
Berlin-Impressionen vom 18. März: Eine wunderbare Ruinenlandschaft in Weißensee – es wird nicht nur gebaut. Diverse Ü50-Damen, eine sogar mit Ehemann, die am offenen Fenster lehnen und sich das Schauspiel des Straßenverkehrs anschauen. Die jungen afrikanischen Flüchtlinge in der U-Bahn-Station, die aufgeregt lachend den Inhalt eines Verkaufsautomaten miteinander besprechen, ohne etwas zu kaufen. Zwei junge Deutsche mit einem gerade gestohlenen Computer und anderem Equipment in einer Plastiktüte. Der Blonde mit der gebrochenen Nase fährt ihn hoch. „Linux – egal, den mach ich sowieso platt.“ Dann besprechen sie, wieviel Geld man für das Notebook bekommt. Mir gegenüber auf der Sitzbank in der U 9, nachts um ein Uhr. Leider muss ich aussteigen.
Der Blutwurstfabrikant Meier ging nach seiner Hodenamputation nie wieder ins Schwimmbad.
Ich schimpfe ja gerne auf den Journalismus, aber er hat auch seine guten Seiten. Mit Pressekontakt 1 bin ich einen Abend lang in der Flop-Bar im Wedding, ohne für meine Cocktails bezahlen zu müssen. Mit Pressekontakt 2 bin ich im Comet Club in Kreuzberg auf einem Konzert, ohne für die Eintrittskarte oder die Getränke zu bezahlen. In dem Laden war ich zuletzt vor sieben Jahren, als ein Musiker aus meinem Freundeskreis den Club komplett für seinen vierzigsten Geburtstag gemietet hatte.
Ein winziges italienisches Lokal in Wilmersdorf, bei dem ich mich seit Jahren frage, wie es überlebt, da ich an den wenigen Tischen über Jahre hinweg fast nie einen Gast gesehen habe. Jetzt bekomme ich die Lösung des Rätsels von der Freundin eines Italieners präsentiert: Das Lokal beliefert exklusiv jede Nacht ein Berliner Bordell. Damit verdient der Gastwirt sein Geld, das Lokal ist nur die offizielle Fassade für die unversteuerten Umsätze im sogenannten Milieu.
Es war eine gute Tat. Für die Bücher und für ihn. Er verdiente mit seinem Antiquariat nicht viel. Also schenkten wir ihm die Bücher, die wir nicht mehr haben wollten. Wir hatten wieder Platz im Regal, er hatte etwas zu verkaufen. So ging es viele Jahre. Eines Morgens im Winter fand man seine Leiche im Kreuzberger Engelbecken. Der Grund für seinen Tod wurde nie bekannt. War es ein Unfall? Hatte er Streit? Ein Selbstmord? Er ist einfach weg, aus unserem Buchmenschenleben verschwunden.
Lethe heißt ein Fluss in der Unterwelt der griechischen Mythologie, aus dem die Toten tranken, um ihr irdisches Dasein zu vergessen. Eine reizvolle Vorstellung: An einem anderen Ort noch einmal neu anfangen, ohne Erinnerung an sich selbst.
„Auch die soziale Isolierung in Künstlerberufen, in denen der Kunstschaffende auf sich allein gestellt ist und kaum besondere technische Fähigkeiten braucht (Schriftsteller) zählt zu den Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen.“ (Thomas Lochthowe : Suizide bei verschiedenen Berufsgruppen: Eine Übersicht, 2011)
Das Schöne bei einer Zugreise: Wir kommen alle zur selben Zeit an.
Wilson Pickett - Mustang Sally. https://www.youtube.com/watch?v=16u6w0cjjrU

Ein deutsches Massaker

Am 24. März begeht ein junger Mann aus Rheinland-Pfalz als Co-Pilot eines deutschen Passagierflugzeugs Selbstmord und ermordet dabei 149 andere Menschen. Solche Selbstmordattentate kennt man bisher nur von islamistischen Terroristen, die einen Sprengstoffgürtel tragen. Andreas Lubitz ist nach dem jetzigen Stand der Fakten der größte Massenmörder in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Donnerstag, 26. März 2015

Wo ist Bonetti?

„Wollen Sie ein Autor sein, wollen Sie ein Buch schreiben, dann denken Sie daran, dass es neu und nützlich oder zumindest sehr vergnüglich sein muss!“ (Voltaire)
Was macht der hessische Großschriftsteller und weltberühmte Vortragskünstler zurzeit? Er arbeitet, wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautet, an seinem opulenten Amerikaroman „Oha! Oho! Ohio!“
Sein neuer Krimi „Die Unschuld des Messers“ erscheint zur Frankfurter Buchmesse im Herbst.
Für seinen historischen Roman „Abschied von Delmenhorst“ hat Andy Bonetti 2014 den silbernen Literaturdachs des bayrischen Heimatministeriums in der Kategorie Dramödie verliehen bekommen.
Sein Schelmenstück „Wetzlar ist nicht Mombasa“, das seit vielen Jahren mit großem Erfolg vom Bad Nauheimer Stadttheater aufgeführt wird, soll von Quentin Tarantino (angefragt) mit Leonardo DiCaprio (angefragt) sowie Rainer Calmund (zugesagt) und Uschi Glas (zugesagt) verfilmt werden.
Erstmals in Buchform erschienen sind auch die Artikel aus seiner Zeit als freier Mitarbeiter beim „Bad Nauheimer Morgen“ und beim „Bad Nauheimer Echo“, z.B. sein legendärer erster Artikel „Quo vadis, Landmaschinenausstellung Wichtelbach?“ von 1986 (Der rasende Bonetti, Hgb: Dr. Ed von Schleck, Sturmkap Verlag Frankfurt/Main 2015). Die englische Übersetzung wurde übrigens vom höchst ehrenwerten Sir Archibald Knickerbocker besorgt und erschien unter dem Titel „We’re only in it for the cheese“ (The Half Company, Cheddarville 2015).
Hier einige Bonettiana:
„Im Treppenhaus roch es nach Knoblauch und Hoffnungslosigkeit.“ (Beginn von Andy Bonettis Novelle „Der Tod kommt aus Braunschweig“)
„Der unerträglich heiße Tag schien kein Ende nehmen zu wollen. Aber gegen Abend erhob sich ein kühler Wind über dem Ozean und wehte sanft über den Strand. Er spielte mit den langen Blättern der Palmen und streichelte die friedlichen Träumer in ihren Hängematten. Vor den Hütten saßen ein paar Eingeborene und spielten Bongo. Bad Nauheim im August.“ (Andy Bonetti: Zukünftige Erinnerungen – Im Salonwagen durchs weite Hessenland, Fulda 2011, S. 27)
„Ich esse einen Apfel und kann sicher sein, den Apfel überlebt zu haben. Aber, so denke ich weiter, es wird der Tag kommen, wo ein Apfel mich überlebt. Er ist noch glücklich und scheinbar schwerelos mit seinem Mutterbaum verbunden, während mir auf dem Bad Nauheimer Friedhof Kränze zu Füßen gelegt werden. Den Apfel an sich werde ich nicht überleben.“ (Andy Bonetti: Nachdenken über Obst, Stierkampf Verlag Frankfurt/Main, Kairo, Ponderosa 2009, S. 108)
„Unsterblich ist nur der Tod.“ (Andy Bonetti: Parerga und Paralipomena, Schnurkrampf Verlag Frankfurt/Main 2014, S. 902)
Wenig bekannt sind Bonettis wissenschaftliche Arbeiten wie „Reiter und Berittener – Reflexionen zur Identität des Subjekts im postmodernen Turbokapitalismus“ oder „Zwischen Logos und Lego – Anspruch und Wirklichkeit radikalfeministischer Transzendenz im Zeitalter digitaler Vergesellschaftung“. Wer bei solchen Buchtiteln verständnisvoll nickt und erhaben lächelt, hat sich als Insider geoutet. Wer die Frage stellt „Was heißt das eigentlich?“, gehört nicht dazu. „Ich habe es stets abgelehnt, verstanden zu werden“ (Fernando Pessoa).
Bonettis „International vergleichende Studie über die Essgewohnheiten von jungen Unternehmensberatern“ aus dem Jahr 1998 ist bis heute unveröffentlicht geblieben. Dagegen gilt „Beobachtungen an Maulwürfen unter Berücksichtigung der Mondphasen“ inzwischen als naturwissenschaftliches Standardwerk.
Zur Abwechslung hier ein Gedicht aus Bonettis neuem Lyrikband „Gedichte für ein anderes Jahrhundert“, es trägt den Titel „Gaylord“:
Mein Bruder
Dieses Luder
Ist ’ne Schwester
Und mag‘s fester
TV-Tipp: The Big Bonetti Theory. Dokuporträt (D / F / B 2015) am Samstag, 20:15 Uhr, auf ARTE.
„Es war bei einem Minigolfturnier in Kopenhagen, als mich ein Ball am Hinterkopf traf und mir die weitere Teilnahme am Wettkampfgeschehen an diesem Tage unmöglich machte. Mir wurde zugetragen, dass ein unbegabter Trottel namens Burnetti oder Buletti die Schuld trug. Ich reiste am folgenden Tag nach Lugano ab.“ (Sean Connery: Lizenz zum Leben, Edinburgh 2007, S. 231)
„Ich habe den berühmten Filmschauspieler Sean Connery in Kopenhagen getroffen. Cool, was?“ (Andy Bonetti: Briefe an Mathilde, Sturkopf Verlag Frankfurt/Main 2012, S. 76)
Abschließend möchte ich noch auf die Dissertation „Zum emblematischen Charakter der Ziegensymbolik im Werk Andy Bonettis“ von Dominique Weißgerber-Bondarenko (Tübingen 2013) hinweisen, in der äußerst detailreich der Bedeutung von Ziegen, Ziegenkäse und Ziegen im übertragenen Sinne in den Romanen Bonettis nachgegangen wird, die jeweils an den schicksalhaften Wendungen der Handlung auftauchen, teilweise als Glücksbringer, teilweise als Vorboten des Unheils.
Noch’n Gedicht?
Haustür und Haustier
Sind wie Tag und Nacht
Haustier und Haustür
Eins schläft und eins wacht
"Wenn ich die romans lange und an einem stück lesen müßte, würden sie mir beschwerlich fallen; ich lese aber nur ein blatt 3 oder 4, wenn ich met verlöff auf dem kackstuhl morgens und abends sitze, so amüsierts mich und ist weder mühsam noch langweilig so." (Liselotte von der Pfalz, Herzogin von Orléans, in einem Brief vom 1. Mai 1704)
The Chameleons – Home is where the heart is. https://www.youtube.com/watch?v=V-3v2rtWgCM

Mittwoch, 25. März 2015

Es trifft immer die Falschen

In der BILD gibt es jeden Tag Post von Franz-Josef Wagner. Heute hat sich der Mann selbst übertroffen:
„Liebe Absturz-Opfer, (…)
Wie war die Stimmung in dem Flugzeug, das in den Tod flog?
Ich hoffe, sie waren glücklich, bevor sie starben.“
Hätte doch Wagner mit im Flieger gesessen …
http://www.bild.de/news/standards/franz-josef-wagner/liebe-absturz-opfer-40289834.bild.html

Epiphanien, Teil 2

„Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.“ (Voltaire)
In den achtziger Jahren warb der bajuwarische Idealspießer und spätere Homo-Tote Walter Sedelmayr noch mit dem Spruch „Mein zweites Frühstück“ für Weizenbier. Das traut sich heute keiner mehr.
Wo sind die Männer geblieben, die am Samstagvormittag im Trainingsanzug ihr Auto vor dem Haus gewaschen haben? Ja, Sie da hinten aus Paderborn? Richtig: im Baumarkt.
Der scheinseriöse SPIEGEL zeigt inzwischen auf dem Cover die Bundeskanzlerin im Kreise verblichener Wehrmachtsoffiziere, die im Zweiten Weltkrieg vor der Akropolis posieren. Spitze, um nicht zu sagen „matterhornmäßig“ (Arno Schmidt)!
Die ewig mahnenden Endzeitgenossen dürfen gerne selbst in den Spiegel schauen. Wie sieht die von ihnen geschaffene Gegenwart aus? Im nachchristlichen Jahre 2015 erleben wir die Profanisierung des Erlösungsgedankens, die Erfüllung im Konsum, den Kauf als sinnfreie Triebhandlung, die infernalische Idiotie der Warenwelt. Das Ziel wird vom Jenseits ins Diesseits verlegt, von der Ewigkeit ins endlose Jetzt. Vulgärhedonismus und Eigenliebe als Religion der Ungläubigen. Weil Ruhe und Bedürfnislosigkeit offenbar nicht auszuhalten sind. Zufriedenheit ist nur ein flüchtiges Gefühl.
Nach Darwin überlebt derjenige, der am perfektesten an seine Umwelt angepasst ist. Schauen Sie sich mal im Kollegenkreis um!
Frankfurt ist nur eine kümmerliche Ansammlung von Dörfern, in deren Mitte ein paar glitzernde Banktürme errichtet wurden.
Der Staat beansprucht das Gewalt- und Herrschaftsmonopol und bietet im Gegenzug Sicherheit und Versorgung. Der Staat zerbricht, wenn seine Bürger sich nicht mehr sicher fühlen und die Versorgung nicht mehr gewährleistet ist (aktuelle Beispiele: Syrien, Irak, Jemen, Ukraine, Nigeria, Libyen, Venezuela usw.).
Der Kapitalismus ist nicht kalt, auf Weihnachtsmärkten können wir die Nestwärme der Bourgeoisie ganz deutlich spüren – und der Glühwein treibt dieses Gefühl bis in die Tiefen der Eingeweide hinab.
Warum ist der Skisport so beliebt? Weil man ungestraft betrunken schnell fahren kann. Geschwindigkeit und Alkohol potenzieren sich im Rausch gegenseitig. G + A = R².
Ich habe in Wilmersdorf einen Punk im perfekten Siebziger-Jahre-Outfit gesehen – der war mindestens 65 und hatte schütteres graues Haar. Du siehst einen Menschen und denkst „Verkäuferin“. Du siehst einen Menschen und denkst „Autofahrer“. Unser Verstand kann mit unseren Wahrnehmungen offenbar nicht viel anfangen. Wir sind zu schnell zufrieden. Ich werde die Geschichte des alten Punks nie erfahren.
Man stelle sich vor, auf dem Ku’damm blieben plötzlich zwanzig Menschen stehen, träten zueinander und sängen ein Lied. Wie lange würde es dauern, bis die Polizei käme?
Wir erkennen unseren Ursprung in der Natur nicht, so wenig wie ein Krokodil die eigene Mutter erkennt, wenn sie ihm begegnet.
Ich sollte eine Aufstellung machen: Stadtsorgen – Landsorgen.
Die Reklame ist über die heimtückischen und niederträchtigen Verführungskünste der allerersten Hure nie hinausgekommen. Das alte Geschäft mit der Sehnsucht, bei dem wir immer verlieren und doch nichts lernen. Auf dem Jahrmarkt habe ich als Kind immer eine „Wundertüte“ gekauft und jedes Mal war nur billiger Tand und Enttäuschung darin enthalten.
Du stehst mit deiner Axt zwischen den Bäumen und alles ist ganz still geworden.
Wir begreifen die Welt nicht, der wir uns anvertrauen. Wie Hunde in einem Fahrstuhl. Mechanismus und Fahrtrichtung werden uns ewig unbekannt bleiben.
März: Die Natur ist matt und farblos, nur die geschwätzigen Singvögel können den Sonnenaufgang kaum abwarten. Akustisch ist der Frühling schon da, optisch noch nicht.
Die drei Dinge, die ich nicht auf eine einsame Insel mitnehmen würde: Internet, Mobilfunk, Fernsehen.
Ich warte noch auf die Springer-Schlagzeile „Krieg kapituliert! Friede gewinnt Schlacht“.
Unter dem neuen Berliner Stadtschloss soll es ja auch eine U-Bahn-Station geben: mit Säulen, Statuen und Kronleuchtern, mit Sitzbänken aus weißem Marmor, riesigen Ölgemälden, Blumenvasen voll blühender Pracht und einem Pianisten. BVG – ick liebe dir.
Plötzlich zerbersten die Fensterscheiben mit ohrenbetäubendem Lärm und ein riesiger Drache mit roten Flügeln und einer entsetzlichen Horror-Hexen-Fratze tritt mit höhnischem Lachen an dein Bett – so ist der Tod und darum solltest du Angst vor ihm haben.
Ein Planet voller kohlenstoffbasierter Wichtigtuer.
Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass Bildung einzig dem Zweck dient, eine möglichst gut bezahlte Anstellung zu bekommen.
„Berliner Knacker im Saitling“ lese ich auf der Verpackung. Was hätte aus mir nicht alles werden können …
Wenn es eine Hölle gibt, dann muss man sich dort bis in alle Ewigkeit seine Selfies und die Fotos von seinen Mahlzeiten anschauen.
Fortschritt: Vor zweihundert Jahren gab es noch keine Schaufenster. Vor hundert Jahren ist fast jeder zumindest gelegentlich an einem Schaufenster vorbeigekommen. Inzwischen ist jedes Wohnzimmer via Fernsehen und die ganze Welt via Smartphone und Social Media ein Schaufenster geworden.
Griechenland: Man darf gespannt sein, was passiert, wenn dieser vereiterte Blinddarm der EU endlich platzt.
Es gibt dicke Teppiche, die Geräusche schlucken. Und es gibt Bürokratien, die jede Wut einfach verschlucken können. Du trittst in eine Behörde wie die ARD oder BMW ein und kannst wie Rumpelstilzchen darauf herum trampeln – es passiert nichts. Du kannst dich über Deutschland oder Europa aufregen und den ganzen Tag rotieren. Nichts. Wie eine Wand aus Vanillepudding. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass Vanillepudding sich als Farbe weltweit durchsetzt? In der Kanalisierung von Emotionen haben sich die Konzerne und Regierungen inzwischen perfektioniert.
Stichwort Organspende: Manche von uns sind im Tod wertvoller als im Leben.
Treibholz geht nicht unter.
The Veils – Guiding Light. https://www.youtube.com/watch?v=3XOAph57Y5Q

Dienstag, 24. März 2015

Money talks – people listen

„Es ist ein Märchen, zu glauben, in Berlin haste (…) man nur. Man versteht hier geradezu drollig, Zeit dahinfließen zu lassen (…).“ (Robert Walser: Aschinger)
„Hören Sie mir gut zu, junger Mann“, sagte der ältere Herr im dunklen Maßanzug und nahm einen Schluck von seinem vierzigjährigen Single Malt. „Sie gehören jetzt zu meiner Firma und daher möchte ich Ihnen auch die Spielregeln erklären. Ich bin jetzt so lange in der Baubranche wie es diesen Whisky gibt. Als ich in den siebziger Jahren nach Berlin kam, funktionierte das System schon genauso wie heute.
Passen Sie auf! Die Politiker des Senats beschließen ein Bauprojekt und die Beamten in der Senatsverwaltung vergeben die Aufträge. Wir bekommen die Aufträge und führen sie aus. Das ist der offizielle Teil. Sie haben sich, wenn Sie klug sind, vermutlich schon einmal gefragt, wieso ein Bauprojekt wie der neue Berliner Flughafen über fünf Milliarden Euro kosten kann. Es ist schließlich nur ein langes Asphaltband für Starts und Landungen und ein Gebäude, wo die Passagiere auf der einen Seite reingehen, ihr Gepäck abgeben, ihr Flugticket bekommen und durch den Sicherheitscheck müssen, um auf der anderen Seite ins Flugzeug zu steigen. Keine komplizierte Sache, kein Vergleich mit einer modernen Fabrik mit Reinraumtechnologie oder Industrierobotern. Nicht komplizierter als ein Einkaufszentrum.
Was kostet an so einem Flughafen fünf Milliarden? Das Grundstück? Nein. Das Baumaterial? Nein. Die polnischen Arbeiter? Nein. Das Geld fließt in die Taschen der Bauunternehmer, der Politiker und Beamten. Es werden Aufträge für teure Gutachter und Berater fällig, die bestätigen, dass alles teuer ist. Sie alle zahlen Geld, um an die Aufträge zu kommen. Es sind ein paar hundert Leute, die von diesem System profitieren. Niemand kann aus diesem Netzwerk aussteigen, weil alle erpressbar sind. Und niemand will aus diesem Netzwerk aussteigen, weil die Summen, um die es geht, verlockend hoch sind. Dieses viele Geld muss von den ahnungslosen Steuerzahlern aufgebracht werden. Je größer das Projekt, je unübersichtlicher die Zahl der Einzelaufträge, umso besser. Die Politiker und Beamten bekommen später wiederum Posten als Berater. Sie arbeiten natürlich nicht dafür, sie bekommen nur fette Honorare und eine Limousine mit Chauffeur. Das kostet alles eine Menge Geld, weswegen die öffentlichen Bauten jedes Jahr teurer werden. Und selbstverständlich will man das Geschäft so lange wie möglich am Laufen halten, darum werden diese Großprojekte praktisch nie fertig. Und falls sie fertig werden, muss schon ein neues Großprojekt in der Pipeline sein, damit das Spiel weitergehen kann. In diesem konkreten Fall ist es die Nachnutzung des Flughafens Tegel, der stillgelegt wird, wenn der neue Flughafen eröffnet wird. Haben Sie das verstanden? Gut.
Dann bereiten Sie jetzt die Pressekonferenz für morgen früh vor. Ich habe ein Gutachten in Auftrag gegeben, das beweist, wie schwierig die Bodenbeschaffenheit unter der Abfertigungshalle ist und dass Risse im Gebäude aufgetaucht sind. Die Eröffnung des Flughafens verzögert sich, sagen wir mal, um ein halbes Jahr. Alles klar? Verkaufen Sie das den Journalisten! Sie werden es widerstandslos schlucken, sonst bekommen die Zeitungen Probleme mit ihren Anzeigenkunden. Nicht nur mit den Kunden aus der Baubranche. Die Politiker, die auf unserer payroll stehen, informieren ihre Kontaktleute in anderen Unternehmen, die wiederum Druck auf ihre Kontaktleute in der Verlagsleitung machen. Die Presse macht uns also sicherlich keine Sorgen. Und im Senat weiß man ohnehin Bescheid. Das ist alles mit denen abgesprochen. Wenn Sie Ihren Job gut machen, verspreche ich Ihnen eine glänzende Zukunft bei Mörtel & More.“
Dann trank der ältere Herr sein Glas aus und blickte zufrieden aus dem Fenster.
Naughty By Nature – O.P.P. http://www.youtube.com/watch?v=6xGuGSDsDrM

Montag, 23. März 2015

Epiphanien, Teil 1

„Ihr seid die Zeit. Seid ihr gut, sind auch die Zeiten gut.“ (Augustinus Aurelius)
Im Rückblick wirkt die Geschichte immer logisch, stringent und alternativlos. Wie hätte es auch anders kommen können? Wir können uns die Möglichkeiten der Vergangenheit gar nicht mehr vorstellen. „Von den nordvietnamesischen Marxisten wird erzählt, sie hätten die Frage gestellt: Wenn die Fortsetzung des Fahrrads unter kapitalistischen Bedingungen das Auto ist, was ist die Fortsetzung des Fahrrads unter sozialistischen Bedingungen?“ (Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn, S. 874).
Wenn ich das Versprechen des Fortschritts, uns die Arbeit immer weiter zu erleichtern und die Effizienz der Produktionsprozesse permanent zu optimieren, richtig verstanden habe, dürften wir demnächst nichts mehr zu tun haben.
Henning Schlunz hatte eine leichte Neigung zu fettreichen Speisen und eine mehr als leichte Neigung zu Adipositas. Mit dem plumpen Hochmut und der gönnerhaften Vertraulichkeit eines neureichen Schweinebarons winkte er die junge Kellnerin zu sich heran. Mit hartem osteuropäischem Akzent fragte sie ihn nach seinen Wünschen. „Bring mir mal ‘ne schöne Molle“, antwortete er gut gelaunt. „Und die Speisekarte“. Frisch verdientem Geld haftet immer etwas Ordinäres und Vulgäres an.
“There was a beauty in the trash of the alleys which I had never noticed before; my vision seemed sharpened, rather than impaired. As I walked along it seemed to me that the flattened beer cans and papers and weeds and junk mail had been arranged by the wind into patterns; these patterns, when I scrutinized them, lay distributed so as to comprise a visual language. ” (Philip K. Dick, Radio Free Albemuth)
Mail eines befreundeten Redakteurs aus dem Jahre 2006: „Hab ich mal erzählt, dass sich im ZDF ein MAZ-Techniker mit den Starkstromkabeln einen elektrischen Stuhl gebaut hat? Und vom Intendanten-Hochhaus haben sich schon ich weiß nicht wie viele Leute runtergeworfen. Heute wurde mir mal wieder klar, weshalb: die Zulassung für meine nächste Doku (Klosterurlaub) haben erst 14 Leute aus 14 Abteilungen unterschrieben, das sind noch nicht alle, also weiterwarten auf grünes Licht. Verzweifelt, X“
Angebliche Weinkenner, deren Wissen sich aus den zweifelhaften Empfehlungen von Kellnern und den vollmundig gegebenen Versprechungen geschäftstüchtiger Winzer speist.
Wann fordert die Damenwelt endlich, den Begriff „Vetternwirtschaft“ durch „Cousinenwirtschaft“ zu ersetzen?
Unter den Herrschafts- und Eigentumsverhältnissen ist der Strand, hieß es einmal. Auch vorbei.
Man liest so oft, dass die Reichen immer reicher werden. Sollten wir sie deswegen beneiden? Sie müssen wie fette Spinnen ihre Beute bewachen und leben in der Hölle ihrer Eitelkeit. Keine Sekunde möchte ich zu den Reichen gehören. Für Luftschlösser zahlt man keine Grundsteuer.
8. März, Berlin. Kaiserwetter. Der Frühling ist ausgebrochen, alles sitzt draußen, die ganze Stadt räkelt sich behaglich in der Sonne wie eine Katze – und dann ist auch noch verkaufsoffener Sonntag. Bei Reichelt entdecke ich „Faust“ und „Schlappeseppel“, seltene fränkische Bierkostbarkeiten. Rührung befeuchtet meine Äugelein, als ich mich im Taumel meines unverhofften Glücks zur Kasse bewege.
Es heißt zwar immer „Häusermeer“, aber in Berlin bin ich doch eher in einem Häuserwald oder einem Häusergebirge, in Straßenschluchten oder in einer Höhlenlandschaft.
Der Bundestag hat die Frauenquote durchgewunken. Ich sehe schon die Stellenanzeige in der FAZ: „Großkonzern sucht Mösenbesitzerin zu Dekorationszwecken für gelegentliche Aufsichtsratssitzungen“. Wer sucht die Frauen aus? Die Männer. Auf diese Hundertschaft Geldweiber müssen wir nicht gespannt sein.
Ich mag Adjektive, obwohl vor ihrem übermäßigen Gebrauch immer gewarnt wird. Der Journalist soll auf Adjektive verzichten, um seinen Text kurz und prägnant zu machen. Der Schriftsteller soll auf Adjektive verzichten, weil er sie in Szenen und Dialogen auflösen soll. „Der geizige Mann“ ist nur eine kurze Formulierung und füllt noch nicht einmal eine halbe Zeile in einem Buch. Löst man das Eigenschaftswort „geizig“ aber in Szenen und Dialogen auf, in denen der Geiz der Person deutlich wird, hat man ganze Seiten gefüllt.
Mein Lieblingsbuchstabe ist übrigens E – zählen Sie ruhig mal nach!
Die Frage nach dem Sinn ist nur eine Phase, die man irgendwann hinter sich lässt, wenn alles gut läuft. Denn es gibt keine Antwort. Man kann die Frage auch in Millionen winziger Einzelfragen aufspalten, es wird nicht einfacher. Was ist der Sinn einer Amsel? Was ist der Sinn einer Gabel (wohlgemerkt: Sinn – nicht Zweck)? Was ist der Sinn eines Sandkorns oder einer Amöbe? Aus diesem Mosaik nicht zu beantwortender Fragen setzt sich ein Bild zusammen: das Nichts. Und damit beginnt die nächste Phase. Keine Fragen, keine Antworten. Stille. Tao. Nirwana.
Machen wir uns nichts vor: Unsere Texte sind nur Eintragungen ins Gästebuch. Die einen schreiben mehr, die anderen weniger, bevor sie wieder abreisen. Manche hinterlassen nur ihre Initialen auf dem Geländer eines Aussichtsturms im Harz. „Für uns alle wird die Nacht hereinbrechen“ (Fernando Pessoa).
“I don’t give a shit about life and death.” Letzte Worte von Sir Reginald Wardrobe (1841-1905)
Baaba Maal & Mansour Seck - Maacina Tooro. https://www.youtube.com/watch?v=ofkGIZktYHc

Sonntag, 22. März 2015

Mono no aware

Ronny Kowalski ging vorschriftsmäßig vor, so hatte er es gelernt. Die Siedlung bestand aus vier Häusern mit jeweils sechs Wohnungen. Also klingelte er an vierundzwanzig Türen. Niemand öffnete, wie geplant. In jedem Haus ging er, nachdem er überall geklingelt hatte, in den Keller, stellte die Heizung ab, drehte die Hauptsicherung heraus und den Hauptwasserhahn zu.
Im dritten Haus hatte er einen Hund gefunden, einen schwarz-weiß gefleckten Mischling, der vor einer Haustür gesessen und gewinselt hatte, als Ronny gekommen war.
„Wer bist du denn?“ hatte Ronny ihn gefragt, aber der Hund hatte ihn nur mit großen Augen angesehen und weiter gewinselt.
Also hatte Ronny ihn mitgenommen und nun saß er in dem kleinen Häuschen, das Ronny schon seit fünf Jahren bewohnte. Er stellte ihm eine Schüssel mit Wasser hin, die der Hund gierig leer schlabberte. Dann öffnete er eine Büchse Gulasch, schüttete den Inhalt in eine zweite Schüssel und stellte sie auf den Boden. Der Hund schnupperte neugierig am Gulasch und fing an zu fressen.
Ronny nickte zufrieden und machte sich ein Wurstbrot. Er hatte Vorräte für ein ganzes Jahr. Konserven mit Brot, Wurst, Suppe, Corned Beef und Fisch. Dazu Nudeln, Reis und Wasser ohne Ende. Während er aß, sah er durch sein Küchenfenster zum Kraftwerk hinüber. Eine schwarze Silhouette in der Dämmerung, kein Licht brannte. Es war ebenso verlassen wie die Siedlung.
Am nächsten Morgen kam ein olivgrüner Lastwagen in die Siedlung und hupte. Ronny ging vor die Tür, den Hund ließ er vorsichtshalber im Haus.
Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und rief: „Sie sind der Katastrophenschutzbeauftragte?“
Ronny ging zum Laster hinüber und sagte: „Ja, ich bin Ronny Kowalski, der Katastrophenschutzbeauftragte.“
„Ist die Siedlung geräumt?“
„Ja, die Siedlung ist geräumt. Alles vorschriftsmäßig.“
Der Fahrer nahm einen kleinen Computer aus dem Handschuhfach und tippte etwas ein. „Kowalski?“ fragte er, ohne aufzusehen. „Ist das ein polnischer Name?“
„Nein, ein deutscher.“
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Ronny: „Alles in Ordnung?“
„Ja“, antwortete der Fahrer. „Die ganze Gegend ist evakuiert. Sie halten hier die Stellung, bis Sie weitere Anweisungen bekommen. Verstanden?“
„Verstanden“, sagte Ronny.
„Brauchen Sie noch irgendwas?“
„Nein.“
„Gut. Und halten Sie sich vom Kraftwerk fern. Kontrollieren Sie regelmäßig die Siedlung. Wenn hier Plünderer auftauchen, melden Sie es der Zentrale.“
„Wird gemacht“, sagte Ronny.
Dann fuhr der Lastwagen wieder davon.
Ronny ließ den Hund vor die Tür und begann seinen Rundgang. Der Hund folgte ihm.
„Du hast ja noch gar keinen Namen“, sagte Ronny, und der Hund wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
P.S.: Die japanische Redewendung “Mono no aware” bezeichnet das traurige Gefühl, das wir manchmal angesichts der Vergänglichkeit der Dinge haben. Es wird auch mit „Die Traurigkeit, Mensch zu sein“ übersetzt.
Paul Kalkbrenner - Sky and Sand. https://www.youtube.com/watch?v=8ybFb_wKlvQ

Samstag, 21. März 2015

Venedig

„HAMM: Kann es überhaupt … er gähnt … ein Elend geben, das … erhabener ist als meines?“ (Samuel Beckett: Endspiel)
In meiner Kindheit war der drohende Untergang Venedigs die Metapher für den kommenden Untergang unserer Zivilisation. Wer hätte nicht Mitleid mit den herrlichen alten Palazzi gehabt? Sie stehen immer noch. Venedig ist nicht untergegangen und das Abendland auch nicht. Aber es ist immer noch eine liebgewonnene Gewohnheit, sich die Welt und damit die eigene Existenz an einem schreckenerregend tiefen Abgrund vorzustellen. Wir sind ganz vernarrt in die Idee, am Ende der Zeit, am Vorabend des Weltuntergangs zu leben.
Offenbar ist die Vorstellung, einfach nur eine ganz gewöhnliche Generation in einer langen Kette von Generationen zu sein, für uns unerträglich. Es kränkt unseren Narzissmus, dass es nach uns einfach weitergeht und dass unsere Zeit nichts Besonderes ist. Vielleicht sind wir nur Krisen- und Untergangs-Junkies? Vielleicht regen wir uns umsonst auf? Vielleicht ist aber auch alles längst zu spät und wir haben selbst die Ungeborenen schon ans Messer geliefert? Wir wissen es nicht. Wir sind zu erschöpft, um irgendetwas zu erkennen.
„HAMM: Meinst du nicht, dass es lange genug gedauert hat?
CLOV: Doch! Pause. Was?
HAMM: Dies … alles.“
(Samuel Beckett: Endspiel)
The Pogues - Waxie's Dargle. http://www.youtube.com/watch?v=-WFBC-PEnTI

Tagesschau

Noch ein Gipfeltreffen
Noch ein Grubenunglück
Noch ein Flugzeugabsturz
Noch ein Vulkanausbruch

 
Noch ein Brand
Noch eine Flut
Noch ein Krieg
Noch ein Kommentar

 
Man freut sich auf das Ende:
Das Wetter
Es wird uns alle überleben

Fernverkehr

Brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm brumm (wird fortgesetzt).