Samstag, 7. Februar 2015

Die Hose

Immerhin hatte Mardo mittags die Wohnung in der Graunstraße verlassen. Er hatte, nach einem kurzen Spazierganz, an einem der Tische im „Ali Baba Imbiss International“ gestanden und sich durch einen Döner Kebab gekaut. Der Döner ist die Notreserve, die Basisversorgung, die Berlin seinen Einwohnern und Besuchern zu bieten hat. Wenn gar nichts mehr geht - irgendwo brennt noch das Nachtlicht einer Dönerbude. Der Döner ist in seiner elementaren Versorgungsfunktion nur mit den Berliner Trinkwasser-Notbrunnen zu vergleichen, die überall in der Stadt zu finden sind. Diese Stadt wird niemals verhungern oder verdursten, soviel ist sicher.
Umut säbelte am Drehspieß herum und erzählte Jimmy, einem farbigen Engländer aus Liverpool, der in irgendeiner Ska-Kapelle spielte, grinsend eine der vielen Geschichten seiner Familie: Ende der neunziger Jahre hatte sein Vater 120.000 DM auf der Bank und beschloss, das Geld in der türkischen Heimat anzulegen. Er hob alles Geld ab und sagte seiner Frau, sie solle es in seine Hose einnähen. Mit dieser Hose im Koffer setzten sie sich in den Bus nach Istanbul. Auf einem Rastplatz musste seine Mutter auf die Toilette. Da sie aufgrund ihrer Zuckerkrankheit schlecht sah, bat sie ihren Mann, sie zu begleiten. Als sie wieder zurückkamen, war der Bus weg. Und mit dem Bus der Koffer und mit dem Koffer auch ihre ganzen Ersparnisse.
Nach einigen Augenblicken der Verzweiflung kam dem Vater eine Idee, sie ließen sich ein Taxi kommen und nahmen die Verfolgung ihres Vermögens auf. Am Busterminal an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei hatten sie den Bus eingeholt, doch die Koffer waren schon ausgeladen worden. Der Fahrer konnte ihnen auch nicht weiterhelfen. Also gingen sie ins Fundbüro, ihre letzte Hoffnung, und tatsächlich – ihre beiden Koffer waren abgegeben worden. Der Vater beschrieb den Beamten den Inhalt, man öffnete vor seinen Augen den Koffer. Ein Schreck durchfuhr ihn: der Koffer war offenbar durchsucht worden. Nervös tastete er nach seiner Hose. Ja, das Geld war noch da. Er schloss den Koffer und wollte gehen. Der Beamte fragte ihn, ob er denn nicht genauer nachschauen wolle, ob etwas fehle, aber der Vater verneinte lächelnd. Sie unterschrieben ein Formular und weiter ging die Reise.
Von dem Geld kaufte der Vater ein etwa zweitausend Quadratmeter großes Grundstück in Adana, der Heimatstadt im Südosten des Landes. Wie es in der Türkei üblich ist, bot ihm eine Baufirma einen Deal an: Wir bauen auf deinem Grundstück Häuser mit insgesamt sechzig Wohnungen, die Hälfte davon gehört dir, die andere Hälfte uns. Und so war sein Vater zu Wohlstand gekommen. Jimmy fragte ihn, ganz nüchterner Brite, warum er dann noch mitten im Winter Döner verkaufte und nicht längst dorthin gezogen sei. Aber Umut zuckte nur mit den Schultern und sagte, dass er eines Tages dorthin gehen würde. Ganz bestimmt. „Mach isch Strandbar auf, in Adana zahlst du für Cocktail mehr als in Berlin.“
Komische Sache mit dem Heimatgefühl, dachte Mardo. Umut gehörte zu diesem Kiez, hier war er aufgewachsen. Und trotzdem gab es etwas, das ihn mit einer Mischung aus Fernweh und Heimweh von hier fortzog. Das merkte man, wenn er von der Landschaft erzählte, in der seine Verwandten lebten. Es sei sehr heiß, aber auch sehr schön, sagte er dann nachdenklich. Eben orientalisch. Und dieser Ausdruck fasste alles zusammen und war ein großes Kompliment. Er lächelte immer, wenn er „orientalisch“ sagte.
(aus: ME, Weißer Wedding – die Geschichte ist wahr, die Namen sind erfunden)
Fehlfarben – Militürk. http://www.dailymotion.com/video/x28mm6d_fehlfarben-militurk-daf-cover-kebap-traume_music

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