Samstag, 28. Februar 2015

Berlin

Senioren, die einen schlohweißen Pferdeschwanz, Jeans mit Bügelfalte und eine Schirmmütze mit dem Logo der Denver Broncos tragen.
Die beiden Jugendlichen, die eine alte Backsteinmauer mit ihren Spraydosen dekorieren. Sie grinsen mich an, als ich in einem Park in der Nähe der Yorkbrücken an ihnen vorüberschlendere. Ich grinse zurück.
Jede zweite Kellnerin ist eigentlich Schauspielerin, jeder zweite Kellner Musiker, und alle studieren gerade irgendwas.
Eine steinalte Frau kommt vorüber, sie zieht in Zeitlupe ein bis über den Rand vollgepacktes, »Hackenporsche« genanntes Rollwägelchen hinter sich her, als gelte es, die nächsten sieben Tage im Luftschutzkeller zu verbringen.
Bier wird auf der Straße getrunken, Döner zweifuffzich.
Alte Mietskasernen. Im Vorübergehen sieht man in Fenster und auf Balkone, kurze Szenen des menschlichen Lebens, das sich so offen und ungespielt zeigt wie in Neapel.
Der herrliche Duft von Buletten weht auf den Bürgersteig, bisweilen auch schwere Wirsingwolken. Aus dem offenen Fenster einer Erdgeschosswohnung klingt hell wie ein Glockenspiel das Porzellan, als offenbar ein paar Teller aus dem Schrank genommen werden.
Alte Männer mit schweren Bäuchen und Nachkriegswirrenpomadenfrisur (»Brisk«, kein Wet-Gel), Frauen mit hässlich gemusterten Pullovern und stocksteifgesprayten Dauerwellen, an denen man sich vermutlich schwer verletzen kann.
Wenn die Bäume in den Parks im Wind rauschen, hört es sich an wie Meeresbrandung.
Diese Stadt schäumt jede Sekunde über vor Gedanken. Es gibt so viele Ideen – großartige und schnell vergessene -, dass niemand sie jemals festhalten könnte. Und du glaubst, man würde sich ausgerechnet an dich erinnern?
Auf der Straße trifft man schräge Leute, die Selbstgespräche führen. Da gibt es die »Kläffer«, die lautstark unverständliches Zeug herausbellten, die »Agitatoren«, die in endlosen Monologen die politischen Probleme der Welt erörtern, und die murmelnden »Flucher«, die nur »Scheiße, Scheiße« oder »Totschlagen müsste man die« vor sich hin brabbeln.
Verträumte Villenviertel. Verspielte schneeweiße Fassaden.
Überall Baustellen. Die ernsten, konzentrierten Gesichter der Arbeiter.
An der Frittenbude vor der Tankstelle beugen sich unrasierte Gesichter über eine Gekröserolle namens Currywurst.
In der U-Bahn verwelkte Angestelltengesichter, Kopftücher, Einkaufstüten, leises Scheppern aus Kopfhörern und die unvermeidliche Litanei eines Straßenmagazinverkäufers. Eine Frau, um die fünfzig und mit Dauerwelle, füllt mit dem strengen Blick einer Zollbeamtin ein Kreuzworträtsel lückenlos aus. Nur die Studenten und Touristen reden und lachen.
Ein ockerfarbener spiralförmiger Kothaufen, der von grün und blau schillernden Fliegen umkreist wird. Verdauungsrückstände des besten Freundes, den der Mensch angeblich hat.
In ihren Kiezen ist die Stadt ganz bei sich, hier kann sie sich geben, wie sie nun einmal ist: alltäglich, banal, irgendwie gerade beschäftigt, manchmal schlecht gelaunt, manchmal mit einem frechen Grinsen im Gesicht.
Die Fleischereifachverkäuferin in einem ärmellosen Polyesterkittel, die Haut der Oberarme hängt herunter wie Teigfladen. Diese Frauen bekommen nach all den Jahren hinter der Fleischtheke selbst etwas Wurstiges. Gesicht und Hände sehen aus wie rohes Fleisch, korrespondierend zur Hautfarbe das korallenrote Papier, in das die Ware gepackt wird. Eingekittelte Körper wie Presswürste. Ihre unscheinbaren Gesichtszüge – Punkt, Punkt, Komma, Strich – sind in einen speckig glänzenden Fleischbrei eingesunken.
Bergmannstraße, Simon-Dach-Straße, Oranienburger Straße: Je beliebter eine Straße ist, desto öder wird das Angebot. Irgendwann ist Gastronomie das Hauptgeschäft, weil die wechselnde Laufkundschaft keine Autos oder Waschmaschinen kaufen will. Dann sitzen Touristen Touristen gegenüber und denken, hier wäre die „Szene“.
Tüten-Paula, die früher inmitten ihrer Plastiktüten und Müllsäcke auf dem Ku'damm gesessen und die Leute angepöbelt hatte.
Eine meterlange Junkie-Spur eingetrockneter Blutstropfen zieht sich am Rand der Treppe entlang, die zur U-Bahnstation hinabführt.
Das „Petrocelli“ in der Motzstraße war in den neunziger Jahren das einzige Restaurant auf der Welt mit drei verschiedenen Toiletten: »Uomini«, »Donne«, »Misti«. Letztere war für den transsexuellen Kellner gedacht, durfte aber auch ausnahmsweise von Behinderten genutzt werden.
Der melancholische Singsang des verschwundenen ostpreußischen Dialekts eines Hausbewohners. „Näi, näi, ich wäiß nich, de Leite sind so komisch jewordn. Komm ich am friehen Morjen ausm Keller, sieht mich de alte Schmittchen und hat se jebrillt. Jebrillt hattse, dabei hab ich se nüscht jetan.“ Das gerollte R, der Tonfall vergeblicher Mahnung und Wehmut, der im Ostpreußischen mitschwingt. „Un de villen junge Leite. Immer nur ihr Tanzvergniejen im Koppe und jläich datt jroße Jeld machen wollen. Ohne Arbäit. Von morjens frieh bis obends ham wir missen arbejten. Mir hatten ja nüschte, als der Russe kam. Jeden Tach Kartoffeln ham wir jejessen. Nu, so is alles jekommen. So is es jewesen.“ Aus seiner Wohnung riecht es nach gekochtem Gemüse und körperlichen Ausdünstungen, so als sei die ganze vorhandene Luft schon mehrfach von tuberkulösen Greisen ein- und ausgeatmet worden.
MyFest in Kreuzberg. Tofuwürste und Unterschriftensammlungen. Erster Mai. Gutmenschenkirmes mit eingebauter Weltverbesserung („der Erlös geht an die feministische Antifa-Kita Bad Oldesloe“). Und anschließend gibt es den unvermeidlichen Demonstrationszug, hennarotgefärbte deutsche Gründlichkeit, Marschordnung und bei Bedarf auch Schlachtordnung, wenn es zum Kampf gegen die Knüppelgarde des Polizeipräsidenten geht.
Berlin steht nicht kurz vor dem totalen Chaos, wie es die Medien gerne berichten, sondern kurz vor der totalen Ordnung.
Eisenwarenladen C. Adolph am Savignyplatz: Das ganze Geschäft scheint nur aus großen dunklen Holzschubladen zu bestehen, in denen sich tausend geheimnisvolle Dinge verbergen. Man wartet am Verkaufstresen und gibt beim Verkäufer seine Bestellung auf, wenn man schließlich an der Reihe ist. Der Verkäufer kennt sich in dem Labyrinth mit der größten Selbstverständlichkeit aus, stellt für Laienohren völlig unverständliche Detailfragen, zieht ein Apothekerschublädchen auf und legt umgehend das gewünschte Ding auf den Tresen. Hier konnte man früher noch einzelne Schrauben und abgezählte Nägel kaufen.
Berlin-Mitte: Menschen, die es eilig haben, Menschen mit bedeutenden Berufen, klaren Meinungen und unerschütterlichen Einstellungen zu allen wesentlichen Fragen. Dazwischen schlendern Touristen, lächelnd und staunend wie Kinder.
Nachts ist die Stadt aus Licht, sie wird durchsichtig. Alles ist vergessen, keine Narben mehr zu sehen. Das Licht löscht alles Vergangene aus. Die Preußen, die Nazis, die Mauer. Fahrräder werfen ihre kleinen Lichtflecken auf die Straße, Autos gleiten mit ihren fetten Doppelaugen wie U-Boote über den Asphalt.
Die berühmte Berliner Luft. Sie riecht nach Autoabgasen, die einen Metallgeschmack im Mund hinterlassen, nach dem Bratfett der Imbissbuden, nach billigem Parfüm. Im Sommer riecht die warme feuchte Luft außerdem nach Urin, Hundekot und Verfall. Nach einem Regenschauer ist es besonders schlimm. Man ist froh über eine frische Brise, die den Gestank der Stadt vertreibt. Vom Blumenladen bis zum Müllwagen strömt alles einen eigenen Geruch aus, am Wannsee riecht es nach Kiefern und im Görlitzer Park nach Haschisch. Früher hat Berlin im Winter nach Kohle gerochen.
Jeder Passant schwimmt in einer kleinen Wolke seiner alltäglichen Gerüche vorüber. Ein älterer Herr riecht nach Zigarren, ein Mann Anfang dreißig dünstet sein Deodorant aus, die Kinder duften süß wie Bonbons. In den Kneipen eine säuerlich-muffige Mischung aus Zigarettenqualm, Mundgeruch, abgestandenem Bier und undefinierbaren Gewürzen.
Schwarz gekleidete Rentnerinnen, die an heißen Sommertagen mit ihren Einkäufen keuchend in irgendeinem Hauseingang stehen. Alkoholiker auf Parkbänken, umgeben von leeren Bierdosen und anderem Unrat. Alte und junge Menschen mit Kinderwagen. Gruppen von umherstreifenden Jugendlichen, eine Mischung aus Virilität und Irrsinn, die sich jederzeit und überall plötzlich wie ein Gewitter entladen kann. Die notorischen Jogger, die albernen Walker und die rastlosen Skater. Menschen, die von ihrem Fensterbrett aus die Welt beobachten.
Im Winter verkriecht sich alles Leben hinter die Steine. Aber unsichtbar hinter den leblosen Fassaden pocht das Blut durch Venen und Arterien. Fleisch und Knochen, Schmerz und Wahnsinn, Liebe und Hass, Gier und Mitleid, Stumpfsinn und Apathie.
Spaziergänge am Morgen, wenn die Stadt erwacht und überall geschäftige ernste Menschen unterwegs sind. Läden und Cafés werden aufgeschlossen, Lastwagen entladen, kurze Gespräche geführt.
Ich sitze im Doppeldeckerbus oben in der ersten Reihe und betrachte die Stadt. Linie 100. Neben mir hat ein älteres Ehepaar aus Toledo Platz genommen, auf dem Schoß der Frau liegt ein Reiseführer.
Eine große Stadt hat mehr als eine Eigenschaft, sie ist nicht einfach nur hässlich oder nur schön, nur laut oder nur lebendig. Eine große Stadt hat alle Farben und alle Formen, sie lacht und weint zugleich, ohne Zeit für Erklärungen oder Entschuldigungen. Der Berliner Südwesten, auf charmante Weise überaltert. Hier kommen drei Beerdigungsinstitute und fünf Apotheken auf einen Spielzeugladen.
Es kreischt, es jault, unten rubinrot, oben sandgelb, die Scheiben dank der mühevollen Kleinarbeit vieler Jugendlicher blind gekratzt, und dann steht sie vor dir: die Berliner S-Bahn.
Parkett in den alten Treppenhäusern, dunkelrote Kokosfaser, gedrechselte Geländerpfosten.
Schöne Friedhöfe, hässliche Neubauten. Die Zeit der Ruinen, der Kriegskrüppel und Witwen ist vergessen.
Im Zentrum, am Brandenburger Tor oder am Potsdamer Platz, trifft man schon längst keine echten Berliner mehr. Die Eingeborenen haben sich tief in den Dschungel zurückgezogen.
Das normale Berlin kommt in keinem Reiseführer vor. Die bis auf halber Höhe mit Holz getäfelten und mit historischen Drucken geschmückten Wände eines Gasthauses. Der Mann mit dem Seehundschnauzbart und Halbglatze, der Eisbein mit Erbspüree isst und dazu seine Molle trinkt.
Berlin macht es einem anfangs nicht leicht, vor allem im trüben Winter nicht. Hier wird niemand mit offenen Armen empfangen, die Stadt ist Neuankömmlingen gegenüber schon immer gleichgültig gewesen. An die Geschäftigkeit, Spottlust und eilige Oberflächlichkeit muss man sich erst gewöhnen. Es dauert lange, bis man die dicke Haut Berlins durchstoßen hat und zum Kern, „ans Einjemachte“ sozusagen, vordringt, zur proletarischen Behaglichkeit und zur tiefen Lebenslust der Menschen, zu ihrem derben Humor und ihrer zähen Beharrlichkeit. Die Nestwärme, die an Rhein und Donau womöglich in größerem Maße vorhanden ist, stellt sich hier oft erst nach vielen Jahren ein. Wenn man sich aber in Berlin eingelebt hat, wenn man sich die Elefantenhaut der Metropole zu eigen gemacht hat und sich in ihr wohlfühlt, will man die Stadt nie wieder verlassen.
„Entschuldigen Sie vielmals die Störung, aber ich befinde mich leider in der unangenehmen Situation, völlig ohne Bargeld zu sein. Ob Sie mir wohl bitte freundlicherweise mit ein wenig Kleingeld aushelfen wollen?“ Der Mann ist um die Sechzig und spricht mit einem Wiener Akzent. Wer mich mit solch ausgesuchter Höflichkeit anspricht, dem gebe ich gerne etwas. Wenn alle Menschen in Berlin so freundlich wären wie die Bettler, würden wir im Paradies leben.
Rechtsanwalts- und Apothekerkinder aus der ganzen Republik, die in die Hauptstadt kommen und ein paar Jahre Revolution spielen, bevor sie in ihre Heimatstadt zurückkehren und Karriere machen. Millionen Menschen kommen, Millionen Menschen gehen. Sie springen auf der alten Tante Berlin herum wie Kinder auf einem Sperrmüllsofa.
Die Greisin im Café hat eine Haut wie zerknittertes Backpapier, eine zerzauste Perücke, und ihre Unterlippe hängt wie ein Tropfen herunter, während sie mich mit ihren kleinen entzündeten Augen mustert. Die lavendelfarbenen Äderchen auf ihren Wangen sehen aus wie ein Flussdelta.

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