Dienstag, 6. Januar 2015

Die Wette

„Wenn man weiß, dass man gewinnt, macht das Spielen viel mehr Spaß.“ (Donald Duck)
Andy Bonetti pflegte den Sonntag im Lion’s Head, dem altehrwürdigen Clubhaus des Bad Nauheimer Minigolfclubs, zu verbringen, entweder Zeitung lesend in einem schweren Ledersessel oder bei einer Partie Bridge mit anderen Clubmitgliedern. An jenem Tag saß er am Fenster und beobachtete den flüchtigen ruhelosen Schatten einer Rauchfahne auf der Wand der gegenüberliegenden Remise, in der die Fahrzeuge der Clubmitglieder abgestellt waren. Vor dem Clubhaus stand eine Statue der Necessitas, der Göttin der Notwendigkeit, der in weiten Teilen Deutschlands gehuldigt wird.
Nicht weit von ihm entfernt unterhielten sich zwei Unternehmer. Einer beklagte sich beim anderen über die Schwierigkeit, geeigneten Führungsnachwuchs zu bekommen. Von den Universitäten bekäme man nur Absolventen der Wirtschaftswissenschaften, deren Köpfe mit Theorie vollgestopft seien, die aber keine Ahnung von der Praxis hätten. Es waren Rittberger und Gierholz, Bonetti kannte die beiden zur Genüge.
„Diese Wirtschaftsprofessoren können Sie vergessen. Diese Leute kennen nichts außer ihren Büchern. Es sind Staatsbeamte, die keinen einzigen Tag in ihrem Leben in einem Unternehmen verbracht haben. Sie kennen die Praxis der Wirtschaft überhaupt nicht. Ihr ganzes Leben verbringen sie in ihrem Elfenbeinturm, schreiben Fachaufsätze und langweilige Lehrbücher, in denen sie ihre alten Vorlesungen aufbereiten. Und sie lesen nur die Aufsätze und Bücher von anderen Beamten, die ebenso wenig von der Wirklichkeit außerhalb der Universität verstehen. Die deutsche Universität ist ein Inzuchtbetrieb, in dem man nur Karriere macht, wenn man als Doktorand oder Assistent seinem Professor nach dem Munde redet und keine eigenen Ideen entwickelt. Man könnte genauso gut einen katholischen Priester fragen, was er uns über die Praxis der Ehe erzählen kann. Er kennt sie nur in der Theorie, aber er kann niemandem einen nützlichen Ratschlag geben.“
„Sie haben völlig Recht, Herr Rittberger. Die ganzen Ökonomen an den Universitäten und Fachhochschulen taugen nichts. Es sind nutzlose Fresser, die uns nur unser schönes Steuergeld kosten. Jedem Berufsanfänger sagen wir an seinem ersten Arbeitstag: Vergessen Sie alles, was Sie auf der Uni gelernt haben! Und dann erklären wir ihm, wie in unserem Betrieb der Hase läuft.“
Rittberger lachte und nickte Gierholz zu.
„Ich lade so einen Professor höchstens mal zu einer Betriebsfeier ein, damit er dort eine Rede hält“, fuhr Gierholz fort. „Es macht sich gut auf der Einladung und wenn man nur ein Buffet anbietet, rümpft mancher die Nase. Außerdem bekommt man so einen Vortrag für tausend Euro und weniger – steuerlich absetzbar. Aber wie komme ich an gute Leute? Können Sie mir einen Rat geben?“
„Ja. Es gibt überall junge Leute, die keine Lust haben, den überflüssigen Quark der Professoren auswendig zu lernen und endlos zu wiederholen. Erst neulich hat sich eine Gruppe von Studenten gegen die herrschende Lehre gewehrt. Ich habe es im Internet gelesen. Versuchen Sie, die Namen dieser Studenten herauszubekommen. Bieten Sie ihnen ein unbezahltes Praktikum an. Wenn sie es annehmen, sind sie unbrauchbar. Diejenigen, die bei Ihnen ein ordentlich bezahltes Praktikum machen möchten, sind die richtigen Leute. Schauen Sie sich diese Kandidaten genau an. Unter ihnen werden Sie ihren Nachwuchs für die Chefetage finden.“
„Ich bin ganz Ihrer Meinung“, sagte Gierholz. „Unser Nachwuchs verschwendet seine Zeit mit den Sonntagsreden von Beamten. Milton Friedman hat einmal gesagt: ‘The business of business is business.‘ Für meine Wurstfabrik brauche ich weder Theorie noch Ethik.”
Ruckartig hob eine Dame den Kopf wie eine Kobra und sah die beiden Unternehmer wütend an. Es war Marianne Fischfinger, die Vorsitzende des örtlichen Veganerzirkels. Offenbar hatte auch sie dem Gespräch der beiden Zecken am feisten Wanst der Wohlstandsgesellschaft gelauscht und bereitete gerade eine rhetorische Intervention vor.
Bonetti, ein Mann von großer Feinfühligkeit und mit vollendeten Umgangsformen, zögerte keine Sekunde und rettete den sonntäglichen Frieden. Rasch und dennoch elegant erhob er sich und winkte lebhaft mit seiner Rechten. „Frau Fischfinger. Sie auch hier? Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Die Dame lächelte geschmeichelt und nickte Bonetti wohlmeinend zu. Bald waren sie in ein Gespräch über Bonettis neueste literarische Vorhaben verwickelt. Da war zum einen „Hitler in Hausschuhen“, ein Buch über Hitlers Freizeitgestaltung: Weltkarten-Puzzle, Zigarettenbildchen-Sammeln, mit Blondie spazieren gehen usw. Nichts Besonderes, ein kommerzielles Projekt, aber Nazi-Kram verkaufte sich eben immer. Außerdem konnte man Fördermittel vom „Kuratorium unheilbares Deutschland“ abstauben. Zum anderen Bonettis Aphorismensammlung „Denkerstirn und Trinkermund, Teil 1: Absinth - Bourbon“.
„Franz Werfel hat einmal den Ausdruck ‚Wortbastelwahn‘ in die Welt gesetzt. Ich muss immerzu schreiben.“ Er lächelte Frau Fischfinger an und nippte an seinem Mint Julep. Die Basis dieses Cocktails aus den amerikanischen Südstaaten ist Bourbon Whiskey, er ist seit 1938 das offizielle Getränk des Kentucky Derby.
„Die Kurzfassung eines Menschenlebens findet man auf dem Grabstein“, fuhr er fort. „Und die Langfassung sollte man vorher zu Papier zu bringen.“
„Ach ja“, seufzte Frau Fischfinger. „Erst wenn wir tot sind, wird unser Leben in Stein gemeiselt. Aber Sie arbeiten doch sicher auch gerade an einem Roman, oder?“
„Selbstverständlich. Er ist thematisch in der Antike angesiedelt und soll den Titel ‚Das schlafende Auge des Argos‘ tragen. Meine Mitarbeiter recherchieren gerade den Stoff.“
Ein Mann trat an ihren Tisch. „Entschuldigen Sie vielmals, Mister Bonetti, aber darf ich Sie um eine Minute Ihrer kostbaren Zeit bitten?“
„Meine Zeit steht ganz zu Ihrer Verfügung. Nehmen Sie doch bitte Platz.“
„Zu gütig. Mit ihrer Erlaubnis?“ Er lächelte Frau Fischfinger an.
Sie nickte ihm freundlich zu und wandte sich an Bonetti. „Darf ich Ihnen vorstellen: Ernesto Cabrón, der Doyen des argentinischen Neokubismus.“
Cabrón war ein hagerer kleiner Mann mit schlechten Zähnen und einem Menjoubärtchen. Er strahlte den berühmten Schriftseller an, als er sagte: „Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mister Bonetti.“
„Hoffentlich nur das Beste, Senor Cabrón.“
Sie lachten beide auf die gleiche künstliche Weise, die man dem jahrelangen Aufenthalt in Clubhäusern verdankt.
„Ich möchte gleich zur Sache kommen, Mister Bonetti. Ich will Ihnen eine Wette anbieten.“
Fortsetzung folgt.
Sex Pistols - My Way. https://www.youtube.com/watch?v=Sv5DdTIKk48
P.S.: Die Bibelverfilmung „Vier Fäuste für ein Hosianna“ der Golden Ray Productions mit Heinz Pralinski als Jesus und Andy Bonetti als Moses wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.

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