Freitag, 23. Januar 2015

Bonettis größter Fan

Donny Wintzinger arbeitete als Schachkomponist, der sich auf das sogenannte Märchenschach spezialisiert hatte. Er entwarf Schachaufgaben für Zeitungen, bei denen neue Figuren zum Einsatz kamen. „Der Zauberer“ kann auf jedem beliebigen Feld des Schachbretts auftauchen, „Der Betrunkene“ kann in einem Zug immer nur einen diagonalen Schritt vorwärts nach rechts, dann einen diagonalen Schritt vorwärts nach links gehen. „Die Prinzessin“ hat drei Wunschzüge frei, muss dann aber vom Brett genommen werden, „Der Jedi-Ritter“ kann eine Figur schlagen, ohne das er bewegt werden muss, der „Laserstrahl“ kann bis zur Grundlinie durchgehen, falls keine andere Figur im Weg ist, und verwandelt sich in einen „Zonk“. Den „Zonk“ kann man einmal quer über das Schachbrett werfen. Alle Figuren, die umfallen, müssen vom Brett genommen werden.
Draußen vor dem Fenster der Blockhütte lag der Schnee meterhoch. Aber in der Hütte von Donny Wintzinger war es angenehm warm und dicke Buchenscheite prasselten im Kamin. Aus dem schmalen Gesicht des Alten sprangen die hellgrauen Augenbrauen hervor, buschig und dicht wie Wollmäuse, unter denen zwei schwarze Pupillen listig und lebhaft hervorblitzten. „Gibst du auf, Andy?“
„Du hast mich, Donny“, sagte Andy Bonetti und warf den König um. „Das nächste Mal bringe ich auch mal eine neue Figur ins Spiel. Den wilden Heinz. Der darf fünf Züge hintereinander machen.“ Dann lachte er und nahm einen tiefen Zug aus dem Zinnkrug, der mit heißem Grog gefüllt war.
Wintzinger schnitzte seine Schachfiguren selbst und verwendete dazu Lindenholz aus dem Wald, in dem er wohnte. Die Schachabende mit seinem alten Freund Andy Bonetti waren ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden, in seiner Hütte hatte er weder Fernsehen, Radio, Internet noch Handyempfang. Einmal im Monat fuhr er nach Bad Nauheim, um Lebensmittel einzukaufen und seine Schachaufgaben bei diversen Zeitungsredaktionen abzuliefern. Und dann zog er sich wieder in seinen Wald südwestlich von Bad Nauheim und der A 5 zurück.
Wenig später verabschiedete sich Bonetti von Donny Wintzinger und stieg in seinen 1974er Ford Gran Torino. Die Hütte lag unterhalb des Altkönigs, einer der höchsten Erhebungen des Taunus, auf dem in grauer Vorzeit die Kelten eine Ringburg angelegt hatten. Der gewundene, abschüssige Weg war im hohen Schnee kaum zu erkennen. Aber Bonetti kannte den Weg und war ein ausgezeichneter Fahrer – vor allem, wenn er ein gewisses Quantum Rum intus hatte.
Da lief ein Dachs auf den Weg. Hielten diese Tiere keinen Winterschlaf? Ein Schlafwandler? Ein Dachs mit Schlafstörungen? Geistesgegenwärtig riss Bonetti das Steuer herum, die Scheinwerfer seines Wagens beleuchteten grell den breiten Stamm einer Eiche. Das war das letzte Bild. Dunkelheit. Stille.
Als er wieder aufwachte, blickte er in die Augen einer Frau. Einer dicken Frau mit dunkelblonder Dauerwelle, die ihn anlächelte.
„Wo … wo bin ich?“ krächzte Bonetti heiser.
„Sie sind bei mir zu Hause. Meine Name ist Melinda Katzenblick und ich habe sie im Wald gefunden.“
Sie reichte ihm eine Schnabeltasse mit heißem Kamillentee und Bonetti trank einen Schluck.
„Was ist passiert?“
„Sie hatten einen Unfall, Mister Bonetti. Nicht weit von meinem Haus entfernt. Ich habe sie ins Haus getragen und ich werde Sie pflegen, bis Sie wieder gesund sind. Ich habe früher als Krankenschwester gearbeitet.“
„Bin ich verletzt? Und woher kennen Sie meinen Namen?“
Sie schlug die Bettdecke zurück. Bonettis Beine waren komplett eingegipst. „Sie haben sich die Beine gebrochen. Außerdem haben Sie eine Gehirnerschütterung.“ Sie lächelte ihn an. „Ich bin Ihr größter Fan, Mister Bonetti. Ich habe alle Ihre Bücher gelesen.“
Bonetti fasste sich an den Kopf. Da war tatsächlich ein Verband. Und er sah die lange Reihe auf dem Bücherregal. „Stefan König, Dämonenjäger“, Band 1-47.
„Ich habe Ihr Notebook aus dem Wagen gerettet. Das Manuskript von Band 48 habe ich auch schon entdeckt. Es macht Ihnen doch nichts aus, dass ich es lese? Ich bin so schrecklich neugierig.“
Die folgenden Tage verbrachte Bonetti im Bett. Frau Katzenblick brachte ihm seine Mahlzeiten und las sein neues Buch.
Währenddessen suchte man in Bad Nauheim fieberhaft nach Andy Bonetti. Im Hessischen Rundfunk sendete man einen „Brennpunkt“ direkt nach der Tagesschau und sein Bild wurde auf die Rückseite von Cornflakes-Packungen gedruckt. „Vermisst: Hessischer Großschriftsteller von edler Gesinnung, der ungekrönte König der Bahnhofsbuchhandlungen, der Sultan des Satzbaus, der Maharadscha der Metapher, der Fürst der Phantasie." Aber in den tiefen Wäldern des Taunus suchte man ihn nicht und seinen Wagen hatte die perfide Krankenschwester mit Schnee zugeschaufelt.
Als sie wieder in sein Krankenzimmer kam, funkelten ihre kleinen Schweinsaugen böse. „Stefan König stirbt in Band 48. Das ist doch nicht Ihr Ernst, Bonetti?!“
„Doch, Frau Katzenblick. Mit dem Tod von König wollte ich die Reihe abschließen. Ich wollte eine neue Reihe anfangen: ‚Vampirette, die Kleine mit den großen Zähnen‘. Das ist alles schon mit dem Verlag abgesprochen.“
„Ich fürchte, dass kann ich nicht zulassen“, sagte sie. „Ich habe das Ende bereits gelöscht. Sie werden ein neues Ende schreiben. Ein besseres Ende.“ Ihre Stimme klang nicht so, als ob sie Widerspruch dulden würde.
Bonetti verfluchte seine Angewohnheit, erst nach Abschluss der Arbeit am Manuskript einen Ausdruck zu machen oder die Datei auf einen USB-Stick zu kopieren.
„Hier ist Ihr Notebook. Ich fahre jetzt zum Einkaufen. Wenn ich wieder da bin, möchte ich ein neues Ende sehen.“ Dann drehte sie sich um und verließ den Raum.
Bonetti wartete eine Weile, dann schlug er die Bettdecke zurück und richtete sich mühsam auf. Er klopfte vorsichtig auf den Gips. Komisch, das tat gar nicht weh. Er hievte die Beine aus dem Bett und stellte sich auf die Füße, während er sich an einem Bettpfosten festhielt. Dann stakste er aus dem Zimmer in die Küche. Mit einem Fleischklopfer schlug er Stück für Stück den Gips ab. Seine Beine waren gar nicht gebrochen! Dann ging er ins Badezimmer und nahm den Kopfverband ab. Im Spiegel sah er die dicke Beule. Er musste bei dem Unfall gegen das Lenkrad geschlagen sein und hatte das Bewusstsein verloren. Nur so konnte er sich alles erklären.
Dann ging er ins Wohnzimmer von Frau Katzenblick. Die Wände waren mit Fotos von Menschen bedeckt. Außerdem waren die ausgeschnittenen Rückseiten von Cornflakes-Verpackungen zu sehen. Er betrachtete sich die Gesichter genauer. Der verschwundene Förster. Der verschollene Bürgermeister von Kronberg. Der vermisste Direktor vom Opel-Zoo. Dazu ein paar Holländer vor ihrem Wohnwagen. Diese Frau war eine Serienkillerin.
Bonetti rannte hinaus in die Kälte und lief in den dunklen Forst. Würde er jemals wieder Bad Nauheim sehen? Und das Notebook hatte er auch liegengelassen. Die Arbeit von zwei Wochen war verloren. Noch nicht mal einen Schokoriegel hatte er eingesteckt, aber er hatte Angst, ins Haus des Schreckens zurückzukehren und irrte ziellos durch den Wald. Wenn diese Frau sein größter Fan war, wollte er die anderen gar nicht kennenlernen.
Pet Shop Boys - Love Comes Quickly. https://www.youtube.com/watch?v=Rws0CMfkGxE

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