Dienstag, 27. Januar 2015

2007, Teil 3

Auszüge aus dem Notizbuch:
24. Juli, Schweppenhausen. Stundenlang das monotone Rascheln, Knistern und Rauschen des Regens bei offenem Fenster, nur unterbrochen von vereinzeltem Plätschern und gelegentlichen, bogenförmig an- und abschwellenden Autogeräuschen. Glück der abgelehnten Wanderung mit H., Abend: Weizenbierplan.
25. Juli. Compadre J. hat vier Tage nach seiner schweren Kieferoperation (Motorradunfall) versucht, eine Dose Whisky-Cola in den Beutel seiner Magensonde zu schütten. Wegen der Kohlensäure schäumte es aber, und er musste schnell den Beutel reinigen, bevor die Krankenschwester wieder kam.
26. Juli. Unbenötigte Gemälde, Teil 353: Dicke Frau auf dickem Pferd, von hinten gesehen.
5. August. Die feiste, steife, sich nicht nur in die tägliche, sondern in eine lebenslange Bewegungslosigkeit hineingesoffen und –gefressen habende Landbevölkerung, die man sonntags zur Mittagszeit in den umliegenden Gasthöfen antrifft.
8. August, Berlin. Heftiger Sommerregen und Gewitter, die Straße vor dem Haus steht einen halben Meter unter Wasser, auch die Bürgersteige sind überflutet. Autos pflügen gemächlich hindurch wie Boote, ihre Bugwellen schwappen in den Vorgarten. Mann ohne Schirm gesehen, er ging ganz ruhig.
Auf die Frage eines Touristen nach einer bestimmten Adresse einfach antworten: „Wer hat Ihnen meine Tarnadresse verraten? Wer schickt Sie?“
9. August. Kleine Ereignisse: „Reden wir nicht davon. Wir haben es gesehen, es hat uns ein Lächeln entlockt, es hat unsere Existenz für einen winzigen Augenblick nicht nur erträglich, sondern auch bemerkenswert gemacht.“
10. August. Es ist, als habe man Post bekommen, wenn man morgens die – allerdings äußerst fragmentarischen und häufig befremdenden – Sinnschnipsel des vorherigen Tages liest. Es sind die verbrannten Reste eines Feuerwerks.
12. August. Als mir bei einem Gelächter ein Popel in den Mund rollte, war natürlich zufällig die gesamte Weltpresse anwesend.
15. August. Was wäre, wenn die Menschheit für ihre vielen Botschaften ins All in zehntausend Jahren eine Eingangsbestätigung irgendeiner extraterrestrischen Bibliothek bekommt und das war’s dann einfach?
16. August. ... und irgendwann gibst du dein Leben zurück wie ein geliehenes Paar Schlittschuhe an der Eislaufbahn.
17. August. In meiner Kindheit waren auf der Nike Missile Base, die 1993 geschlossen wurde, im Ober-Olmer Wald zwischen Mainz-Lerchenberg und Wackernheim, also nur wenige Kilometer von meinem Zuhause entfernt, Atomwaffen stationiert. Die Raketen hatten eine Reichweite von 6 bis 140 Kilometern. Die zwölf Meter langen Nike Hercules-Raketen waren zur Abwehr sowjetischer Langstreckenbomber installiert worden. Sprengkraft: bis 40 Kilotonnen TNT (Hiroshima-Bombe: 13 kT TNT). Die pyramidenförmigen Abschussbunker kann man noch heute sehen.
20. August. Sprichwörter, das geistige Schwemmgut des nahezu schriftlosen Jahrtausends vor Gutenberg (in Europa). Ein Beispiel: „Du bist nur einmal jung“. Die Menschen wussten instinktiv, wie dämlich und naiv die Jenseitslogik des Christentums ist (ebenso wie die griechisch angehauchte Gottessohnmythologie – tote Halbgötter waren schon vor Jesus der Theaterhit im Mittelmeerraum). Man lebt eben nur einmal, man wird nur einmal zehn, zwanzig usw. Lauter Einmaligkeiten.
23. August. „Wieso ich?“ (Jugendfrage)
„Wieso eigentlich immer ich?“ (Erwachsenenfrage)
„Ja gut, ich komme.“ (Altersantwort)
24. August. Mathematikerwitz, Nr. 407: Treffen sich zwei parallele Linien in der Unendlichkeit. Sagt die eine ...
25. August. Irgendwie hat es die Natur klug eingerichtet, dass wir zugleich alt und sarkastisch werden. Es erleichtert das Sterben ganz erheblich.
26. August. Die Formulierungen „Geld oder Leben“ bzw. „Hände hoch“ finden bei der Verbrechensdurchführung auch immer seltener Verwendung.
Das Wochenende war nicht unvergesslich, sondern das genaue Gegenteil: Er konnte sich an nichts mehr erinnern.
30. August. Hätten Pflanzen eine Religion, wäre Photosynthese bestimmt eine ganz große Sache.
9. September. Ich bin Gottes letzte Schöpfung: Das Fünf-Finger-Faultier. Irgendwo im Niemandsland zwischen Tier und Gott.
10. September. Als Zyniker erwartet man vieles, aber manchmal kommt es noch schlimmer. Tatsächlich habe ich diese Anzeige im Internet gelesen: „Wann sterbe ich? Jetzt anmelden und Test starten!“
15. September. Wirklich menschlich sind nur Mitgefühl und Selbstaufgabe, alles andere ist bloße Steigerung des Tierischen (Verstand, Sprache, Technik usw.).
19. September. „Wohin gehen wir?“ ist die falsche Frage. „Wohin werden wir gebracht?“ müsste es heißen.
26. September. TV-Werbung: „Kein Geld, keine Hoffnung, keine Zukunft. Jever Suizid. Jetzt mit noch mehr Strychnin.“
27. September. Es war die Zeit, in der die Farbe Schwarz für ein Geheimnis stand und nicht für das Unglück. Auf seiner Landkarte gab es nicht nur weiße, sondern auch schwarze Flecken. Er kämpfte beim Notieren mit jeder Silbe, der Stift oder vielmehr seine Hand schienen ihm nicht zu gehorchen, bis er merkte, dass er gar nicht schrieb, sondern nur vom Schreiben träumte.
28. September. Ein Mann steht in einer Gegend. Nein, er liegt in einer Gegend. Grundlos. Jetzt schwebt er und nun ist auch die Gegend verschwunden.
11. November. Ich mahle etwas Pfeffer über das Rindersteak mit Steinpilzen. Ein ganz vorzügliches Mahl, beim Aufstoßen verbinden sich die Geschmacksnoten des Essens mit dem Rotwein. Wenig später bin ich auf dem Weg zu einer Beerdigung. Es sind Hunderte Menschen, die zum Friedhof wollen, ich gehe mitten unter ihnen. Die scharfkantigen Schattenrisse der unbelaubten Bäume auf dem Kiesweg, der unter meinen Stiefeln knirscht wie zerbrochenes Glas. Ein klarer kalter Sonnentag, der Wind rauscht in meinen Ohren, als lauschte ich an einer Muschel. Jedes Geräusch ist kristallklar zu hören. Schließlich kommen wir auf dem Friedhof an. Viele Menschen, ganz in schwarz gekleidet, sind bereits im Halbkreis um einen offenen Platz versammelt. Mit stummen Gesten bittet man mich in die Mitte, erst jetzt bemerke ich, daß meine Hände auf den Rücken gefesselt sind. Es ist keine Beerdigung, schießt es mir durch den Kopf, es ist meine Hinrichtung.
23. November, Prag. Es ist eine Choreographie des Trinkens. An jedem Tisch im „schwarzen Ochsen“ auf dem Burgberg sitzt ein einzelner Mann, nach einer Weile haben sich die Trinkrhythmen eingespielt. Der Kellner geht in schöner Regelmäßigkeit durch den Gastraum und nimmt stumm die Bierbestellungen entgegen. Wie englische Auktionsteilnehmer nicken die Gäste andeutungsweise oder sie schließen für einen kurzen Moment bedeutungsvoll die Augen. Der Kellner sieht, freilich ohne auch nur den Kopf in Richtung der Gäste zu wenden und mit geradezu schläfriger Selbstverständlichkeit, die getätigten Bestellungen und bestätigt sie im Vorbeigehen mit einem Handzeichen in Richtung der einzelnen Gäste. Kein Radiogeplärre, keine Hintergrundmusik, überhaupt keine trinkfremden Geräusche, nur die fast zärtlich zu nennende Schweigsamkeit, mit der man hier mit unvergleichlich gutem Bier versorgt wird. Hier in dieser Kneipe nahe dem Hradschin, wo gerade Wachablösung war, dieses blödsinnige Operettenritual mit der Star Wars-Musik einer Kapelle, die am offenen Fenster steht, mit all dem Gequatsche und Handybimmeln der Touristenmassen, zur Mittagszeit, wo rundherum in den Lokalen die Hölle los ist, finde ich die Ruhe zum Schreiben. Offensichtlich denken viele, das kleine uralte Haus sei längst verlassen. Aber hier drinnen ist Leben, hier sitzen die Einheimischen in all ihrer brasilianisch zu nennenden Gelassenheit und trinken. Geradezu rührend die Speisekarte: fünfzig Gramm Brot für eine Krone, zwanzig Gramm Butter für vier Kronen. Also kann man sich für umgerechnet zwanzig Cent ein Butterbrot schmieren. Die bedächtigen regelmäßigen Bewegungen der Trinker, harmonisch wie ein Glockenspiel heben sie die Arme. Wozu reden? Im Grunde drehen sich die meisten Gespräche doch überall auf der Welt um die gleichen Themen oder Probleme: das Geld, die Arbeit, die Frau, die Kinder. Ich habe es mir ganz einfach gemacht: kein Geld, keine Arbeit, keine Frau und keine Kinder. Mir gegenüber nun ein raues Trinkerlachen, als ich die Frage nach der Uhrzeit mit einem Schulterzucken und dem Verweis auf meine nackten Unterarme beantworte.
27. November, Berlin. Ordnung ist die Sehnsucht der Idioten.
28. November. Er erinnerte sich an einen alten Freund, der einmal schlafend aus seinem Hochbett gefallen war und während des Fluges aufwachte. Da bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Wo bin ich? Wer bin ich? Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Der Körper ist in diesem Fall schneller als der Geist. Und tatsächlich ist er unverletzt geblieben. Hätte er nachgedacht, würde er heute vermutlich auf Krücken gehen.
29. November. Kinderlogik, eine Vierjährige beim Spiel mit Lego. Auf meine Frage, was es denn werden soll, bekomme ich zur Antwort: „Das weiß ich doch erst, wenn’s fertig ist.“ Ein leeres Blatt Papier ist „ein Bild mit nix drauf“. So kann man es auch sehen.
2. Dezember. Typisch Frau: „Ich schaff’s nicht.“ Typisch Mann: „Es geht nicht.“
Die Brutalität der sogenannten Zivilisation ist grenzenlos, nichts unterscheidet die Vernichtung der amerikanischen Kultur seit dem frühen 16. Jahrhundert vom Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Wir sind wie Katzen, die aus Spaß quälen und aus Langeweile töten.
3. Dezember. Wie kommt man durch einen Irrgarten? Mit Geduld und Verstand. Wie kommt man durch einen riesigen Irrgarten, der bis zum Horizont reicht? Mit der Axt deiner Unverschämtheit.
Er: Man müsste fünf Hände haben. Ich: Nö (rülps), aber ein zweiter Mund wäre nicht schlecht (hicks).
7. Dezember. Idee für eine Horrorgeschichte: Ein Mensch stirbt, ist aber danach nicht tot, sondern erlebt seine eigene Verwesung. Er kann sehen, bis Vögel seine Augäpfel zerstören, und hören, bis das Trommelfell zerfällt usw. Das Kribbeln der Maden in seinem Bauch und unter seiner Haut kann er immer spüren. Gag: Er kann seinen eigenen Leichengeruch so wenig riechen wie vorher seinen Mundgeruch. Die Wahrnehmung ändert sich, um ihn herum geschehen Dinge, die ihn seinen Tod begreifen lassen bzw. die Gründe für seine Ermordung. Als er alles begriffen hat, verschwindet sein Geist, seine Seele endgültig.
12. Dezember. Es ist einer dieser Tage, an denen man sich fragt, warum nicht auch tagsüber die Straßenbeleuchtung eingeschaltet ist. Bei einem Spaziergang habe ich ein Wort entdeckt, das uns augenblicklich ganz selbstverständlich und banal erscheint, aber in zwanzig Jahren Literatur sein und vieles klarer erscheinen lassen wird: Matratzenoutlet.
13. Dezember. „Gefühlte Kevin-Dichte“ als Maßstab für den Verblödungsgrad einer Bevölkerung.
Er wurde mit einer 9mm Garamond erschossen.
Winternacht. Die riesige Kälte draußen. Die winzige Wärme innen. Erst bei geöffnetem Fenster merkst du den Unterschied.
Sobald der Beweis erbracht ist, dass das Universum nicht existiert, verschwindet es augenblicklich.
18. Dezember. Ich weiß auch nicht, was ich hier soll. Aber ich lasse es mir gut gehen, während ich darüber nachdenke.
24. Dezember. Wie friedlich und ruhig es wäre, wenn alle Menschen zur gleichen Zeit besoffen wären.
Mississippi Fred McDowell - John Henry. http://www.youtube.com/watch?v=54GNI2K3-ec

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