Montag, 1. Dezember 2014

Zeit und Freiheit

Er hatte alle Zeit der Welt. Nicht einfach Freizeit, nein: er war frei. Keinerlei Berufstätigkeit oder andere Verpflichtungen - das war der Kern dieser Zeitfreiheit, dieser Wahlfreiheit nach dem Lustprinzip. Zwei Dinge wusste er über die Zeit. Erstens ist sie relativ, wie Einstein herausgefunden hatte. Sie hat einen bestimmten Wert, der von Situation zu Situation, aber auch von Betrachter zu Betrachter, unterschiedlich sein konnte. Für ihn selbst war seine Zeit kostbar, für andere war sie bedeutungslos. Er hätte ihren Marktwert schätzen lassen können, dazu hätte er sie anderen als Arbeitszeit anbieten müssen. Was hätten sie ihm dafür gegeben? Vielleicht fünf oder zehn Euro pro Stunde? War sie das wert – oder nicht viel mehr? Ihm selbst erschienen die Stunden, die er mit Faulenzen, Musik hören und Nachdenken verbrachte, viel kostbarer und sein Zeitvertreib erschien ihm nicht als Zeitverschwendung, als unwiederbringlicher Verlust. Zweitens ist die Zeit perspektivisch wie eine Landschaft, wie Hans Henny Jahnn geschrieben hatte. Das Nahe erscheint groß und wichtig, das Ferne verschwindet am Horizont der Erinnerung - oder der Erwartung. In dieser Landschaft musste man eigene Marksteine setzen, eine Richtung und einen Rhythmus finden, eine eigene Melodie, nach der man sich durch die Tage, Wochen und Monate bewegte, ohne sich selbst zu verlieren oder gar in die lähmende Langeweile vieler Arbeitsloser zu verfallen, die es mit sich selbst alleine nicht lange aushielten.
Er war nicht arbeitslos, er war mit voller Absicht untätig. Und er erstickte nicht an zu viel Freizeit, er genoss die Freiheit und hatte die Kraft, diese völlige Unabhängigkeit zu leben. Dieser Gedanke machte ihn froh und für einen Augenblick fühlte er sich wie ein irischer Dichter. Er konnte trinken, wann er wollte und über alles Mögliche nachdenken, was niemanden sonst interessieren mochte. War es dieser Wille zur Faulheit, der ihn zugleich frei und unsichtbar machte, oder war es seine völlige Bedeutungslosigkeit für andere Menschen und für den „Arbeitsmarkt“? Er widerstand der Maschinerie des bürgerlichen Alltags, der Veränderungshetze, der effizienten Zeitplanung und all der Eitelkeit, die hinter vielen Tätigkeiten verborgen lag. Er trug in dieser Hinsicht nur einen Lendenschurz, sein Leben war nackt, entkleidet von allem Überflüssigen, konzentriert auf das Wesentliche: trinken, essen, denken, schreiben, schlafen. Das musste genügen und es genügte wirklich.
(aus „Die singende Fleischwurst“ von Rondo Delaforce)
B.B.E. – Seven Days and One Week. http://www.youtube.com/watch?v=BgYi-fmi9tk

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