Donnerstag, 4. Dezember 2014

Trinker und Trinker

Neulich war ich im Gasthaus, Jägerschnitzel und Bier. Die Nachbartische wurden gerade eingedeckt und die Wirtin erzählte, gleich käme eine Beerdigungsgesellschaft, am Abend würde ein Geburtstag gefeiert und am folgenden Tag eine goldene Hochzeit. Auf dem Land findet das Leben in der Kneipe statt. Alle Stationen des Daseins bieten einen Anlass zum gemeinsamen Zechen. Aber es gibt auch eine traurige und verzweifelte Art des Trinkens. Vor dem Ingelheimer Einkaufszentrum treffe ich A. und B., zwei stadtbekannte Alkoholiker, wenn ich mich einer handelsüblichen Floskel bedienen darf, die ich schon seit meiner Jugend kenne. Oberflächlich betrachtet sind ihre Gesichter vom Alkohol zerstört, aber wenn man sie kennt, weiß man, dass es ihre Familiengeschichten sind, von denen sie vernichtet wurden.
A. hatte einen Bruder, der Jura studiert hat. Er war schon einmal durch die mündliche Prüfung gerasselt und stand nun zum zweiten Mal vor der Kommission. Am Ende teilten ihm die Prüfer mit, er habe wieder nicht bestanden. Da zog er eine Pistole und schoss sich im Prüfungssaal in den Kopf. B. hatte einen Vater, der eines Tages durchgedreht und mit der Axt durch die Stadt gerannt ist. Die Polizei überwältigte ihn und er war zehn Jahre lang zur Behandlung seiner Schizophrenie in der Nervenheilanstalt in Alzey. Nach seiner Entlassung arbeitete er in der Leergutannahme eines großen Supermarkts an der Autobahn. Als er merkte, dass die Krankheit zurückkam, hat er sich im Keller erhängt. B. hat ihn gefunden. Sein Bruder erkrankte Jahre später ebenfalls an Schizophrenie und nahm sich wie der Vater das Leben.
So stehen sie in der Adventszeit mit ihren roten, aufgedunsenen Gesichtern vor dem Einkaufszentrum und man würde sie für gewöhnliche Säufer halten, wenn man ihre Geschichte nicht kennen würde. Mit B. hat mich einige Jahre lang eine Brieffreundschaft verbunden. Obwohl wir uns fast jeden Abend in der Kneipe sahen, haben wir uns umfangreiche und tiefschürfende Briefe geschrieben. B. wollte Schriftsteller und Philosoph werden. Heute ist dieser Mann, der im vergangenen Monat fünfzig Jahre alt wurde und in einem Baumarkt arbeitet, längst erloschen. Er wohnt immer noch in seinem Kinderzimmer und seine Mutter kocht ihm jeden Abend das Essen. Sicher hat er seinen Geburtstag mit A., der schon seit Jahrzehnten keiner Arbeit mehr nachgeht, mit einigen Flaschen Wein begossen und auch bei seiner Beerdigung werden wir auf ihn anstoßen. Aber noch rinnt Alkohol durch die Überreste ihrer Existenz. Solange das Orchester spielt, tanzen wir weiter.
Bill Callahan - The Sing. https://www.youtube.com/watch?v=96xpXS3hbec

1 Kommentar:

  1. Der Rost auf dem wir tanzen wird immer grobmaschiger. Auf das Leben!

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