Freitag, 26. Dezember 2014

Die Strafe, Kapitel 7

Am letzten Wintertag – es war gegen sechs Uhr morgens, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Zimmer. In ihren bunten Uniformen sahen sie aus wie exotische Singvögel. Auf der Brust trug ihr latexartiges Trikot die Aufschrift „Bundesamt für Aufschwung“. Die Farben kamen ihm aus seiner südlichen Heimat bekannt vor. Bisher hatte er in dieser Stadt nur wenige Farben wahrgenommen. Jetzt war K. verwirrt von dieser regenbogenartigen Vielfalt. Er hatte an seinem Schreibtisch auf den Besuch gewartet und war völlig in Schwarz gekleidet. Beim Eintreten der beiden Herren hatte er ruhig begonnen, seine feinen Lederhandschuhe sorgfältig über die einzelnen Finger zu streifen.
„Sie sind also für mich bestimmt“, sagte K. und blickte dem vorderen Herren in die Augen. Er nickte und wies stumm auf seinen Hintermann, der daraufhin die Andeutung einer Verbeugung machte. K. blickte ein letztes Mal aus seinem kleinen Fenster. Auf der anderen Straßenseite war alles ruhig, die Fenster waren geschlossen. Offenbar schlief dort noch alles, K. lächelte. Dann verließ er sein Zimmer, die beiden Herren folgten dicht hinter ihm. Das Treppenhaus lag ruhig vor K., er spürte jede einzelne Stiege unter seinen Füßen. Auf der Straße war es noch recht dunkel, die Laternen glommen schwach im frühen Nebel. K. hatte bisher seine Begleiter kaum wahrgenommen, sei es aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse allenthalben, sei es aufgrund der Farbenpracht ihrer Kostüme. Nun versuchte er, ihre Gesichter zu erkennen. Es waren glatte Gesichter mit geraden schmalen Nasen, Gesichter, an denen der Blick abglitt und die im Gedächtnis keine Erinnerung hinterließen.
Sie liefen weiter durch die Gassen, die oberen Geschosse der Häuser wurden bereits vom ersten Morgendämmern in helles Grau getaucht. Aus einer Seitengasse kamen ihnen plötzlich Warsteiner, Bullrich und Traminer entgegen. Offenbar kehrten sie gerade von einem Wirtshausbesuch zurück. Sie senkten das Haupt und schlichen an der Häuserwand an ihnen vorbei. Bald erreichten K. und seine Begleiter den Stadtpark, die beiden Herren liefen nun neben K., so dass ihre Schultern sich gelegentlich berührten. Hier in diesem Park hatte sich K. oft und gerne gestreckt, hier hatte er den jungen Damen nachgesehen, die ihre neuesten Modeerwerbungen zur Schau stellten. Hier hätte er gerne im Sommer ein Eis gegessen.
Dann liefen sie eine steil aufsteigende Straße empor, die aus der Stadt hinaus führte. Sie begegneten einem Polizisten, der nur kurz herüber nickte, um auf diese Weise schon von Ferne die Richtigkeit der Verurteilung zu bestätigen. Kurz vor Sonnenaufgang erreichten sie die letzten Wohnhäuser der Stadt, an die sich, fast ohne Übergang, weitläufige Felder anschlossen. Im Hintergrund war ein kleines Wäldchen zu erkennen. Sie gingen nun querfeldein und die beiden Herren beschleunigten ihre Schritte. K. hatte Mühe mitzuhalten. Einige Male stolperte er, aber die Herren fassten ihn jedes Mal sogleich fest an den Oberarmen, so dass er nicht stürzen konnte. Kurz vor dem Wäldchen, an dass K. sich noch voller Wärme erinnern konnte, da er hier einige Spaziergänge unternommen hatte, und in dem eine winzige Quelle entsprang, war ein Steinbruch, in den K. nun hinab geführt wurde.
Im Steinbruch waren die beiden Herren zunächst unsicher. Sie hießen K., stehen zu bleiben, um ihn sogleich an eine andere Stelle des Steinbruchs zu zerren. Dann besprachen sie sich, K. fröstelte es währenddessen. Einer zog ein Spritzbesteck aus dem Innenfutter seines engen Anzugs. Ruhig bereitete er eine Injektion vor. Der andere führte K. zu einem großen flachen Felsblock und bedeutete ihm, sich dort hinauf zu legen. Er streckte sich der Länge nach auf dem Stein aus. Weit entfernt war das letzte Haus der Stadt zu sehen, aus dem jetzt eine Frau, nur schwach und dünn zu erkennen, zu K. hinüber winkte. Vielleicht winkte sie auch einem sehr nahen Menschen. Das war nicht genau zu erkennen. Jedenfalls ragte der geschwenkte Arm weit aus dem Fenster heraus in seine Richtung. War hier Hilfe zu erwarten? Konnte diese Frau ihn noch retten? Gab es Einwände, die man vergessen hatte?
Nach einigem leisen Fluchen hatte einer der Herren die Spritze gebrauchsfertig gemacht und reichte sie nun dem anderen – über K.s ausgestreckten Leib – herüber. Dieser betrachtete die Spritze angewidert und gab sie zurück. K. bestaunte die aufgehende Sonne, deren Strahlen nun die Szene zu betasten begannen. Er lächelte leicht und hob die schmalen Hände. Da spürte er plötzlich den scharfen Stich der Spritze in seiner Schulter. Mit brechenden Augen sah K. noch, wie ihn die beiden Henker ohne sichtbare Erregung beobachteten, die Köpfe eng beisammen. „Wie ein Junkie!“ sagte K., während er bewegungslos in die vergehende und dennoch ewige Nacht empor starrte. Es war, als sollte die Faulheit ihn überleben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen