Freitag, 26. Dezember 2014

Die Strafe, Kapitel 3

Eines Nachmittags – K. war gerade vor dem Ende der Happy-Hour sehr beschäftigt – drängte sich zwischen zwei Kellnern, die riesige Mengen von Weizenbiergläsern in den Schankraum hinein trugen, K.s väterlicher Freund, von allen nur liebevoll Grappa-Günter genannt. Er war auf seinen Anblick vorbereitet, so dass der alte Zechkumpane sein Erschrecken nicht bemerkte. Günter konnte, wenn es um Probleme anderer Leute ging, eine erstaunliche Energie entwickeln. „Ich muss mit dir reden“. K. hatte diese Eröffnung erwartet. Günter sagte nichts und so sagte er auch nichts. „Ich habe einen Arbeitsvermittler für dich“, fuhr Günter fort. K. erschrak – hatte er denn schon solchen Beistand nötig? Er schaute auf das Fenster, eigentlich eine blinde schmierige Scheibe, die ihm nichts über die Welt jenseits dieses undurchdringlichen Schmutzes verraten würde. „Du schaust aus dem Fenster!“, rief Grappa-Günter mit erhobenen Armen, „Das kann doch nicht wahr sein!“. K. fühlte unangenehm die Blicke in seinem Rücken und wünschte diesen Wichtigtuer zur Hölle.
In der Ferne saßen die Zocker vor den Geldspielautomaten an der Rückwand des Schankraums. Sie warfen mechanisch Münzen nach. An den Tischen die Kartenspieler, mit ihren abgegriffenen speckigen Pappstücken beschäftigt und dabei aufgeregte Rufe ausstoßend. Am Stammtisch war das synchrone Leeren der Humpen zu beobachten. „Also gut“, begann K., „ich werde den Arbeitsvermittler deiner Wahl hinzuziehen.“ Günter schien mit dieser Antwort zufrieden und bestellte eine Runde Schnaps. K. hielt die Angelegenheit zu unbedeutend für eine Schnapsrunde, trank aber dankbar und schweigend. „Und jetzt sag mir, warum die Behörde dich vorgeladen hat. Worin besteht dein wirkliches Vergehen?“ K. war wie vor den Kopf geschlagen, der Grappa verfehlte seine Wirkung völlig. Und das vor allen Trinkgenossen. Er, der jeglicher Arbeit immer nur ironisch gegenüberstand, sah sich jetzt einem allgemeinen Gespräch über die Forderungen der Behörde ausgesetzt. Also schnappte er Grappa-Günter und trotz der späten Stunde suchten sie die Agentur des Arbeitsvermittlers auf.
Als sie endlich angelangt waren und an die Tür klopften, öffnete sich zunächst nur das Guckfenster. Zwei dunkle Augen blickten kurz hinaus und das Fenster schloss sich wieder. Günter klopfte erneut: „Öffnen Sie, es sind Freunde des Arbeitsvermittlers“. K. hätten schon allein die sanitären Anlagen des Arbeitsvermittlers interessiert, da er nach dem langen Marsch ein heftiges Bedürfnis nach Erleichterung verspürte. „Dem Arbeitsvermittler geht es nicht gut“, flüsterte es kaum hörbar hinter der Tür. Günter blickte aber weiter tapfer in die Luke und wiederholte seinen Satz, als ob es eine geheime Losung wäre. Die Tür öffnete sich und ein schüchternes winziges Wesen im Schlafrock führte die späten Gäste hinein. Die dunkle Vorhalle wurde nur durch den Kandelaber der jungen Frau erhellt, sie schritten die breite Wendeltreppe empor. Oben angelangt boten sich viele Wege mit endlosen Zimmerschluchten an, die Bedienstete führte sie zu einem Zimmer, das der Straße abgewandt war. „Der Arbeitsvermittler ist krank“, wiederholte in abgewandelter Form das Mädchen seine alte Klage.
Sie betraten das Zimmer des Arbeitsvermittlers, welches – nur schwach ausgeleuchtet infolge der gesundheitlichen Beeinträchtigungen seines Bewohners – nicht in seiner vollen Größe zu übersehen war. In der Mitte stand in riesiges Bett, aus der Mitte der Kissenburg lugte ein graubärtiges, volles Gesicht. „Zeig den Gästen ihren Platz, Lilly“, sagte schwach und hustend der Arbeitsvermittler. Lilly wies stumm auf einen kleinen Teppich vor dem Bett, auf den sich Günter sogleich niederkniete. K. tat es ihm mit leichtem Zögern nach. Im ganzen Zimmer war nichts zu erkennen, die schwache Nachttischleuchte erhellte nur die winzige Szene am Bett. Er hörte, wie Lilly die Tür sanft hinter ihnen schloss. Der Arbeitsvermittler fragte träge: „Warum seid ihr gekommen?“ Günter blickte zunächst zu K. hinüber und begann dann, dessen Fall zu erläutern. K. fühlte sich in seiner Lage unwohl, da er seine volle Blase zu spüren begann. Plötzlich – K. wusste nicht, an welcher Stelle des Gesprächs sie angelangt waren, da sich seine Gedanken längst auf Möglichkeiten einer Erleichterung konzentriert hatten – ergriff ein Mann das Wort, der offenbar seit langem im Dunkeln gesessen und zugehört hatte. Er begann seine Rede mit einigen grundlegenden Bemerkungen zum Wert und zur Würde der Arbeit. In der Folge streifte er ein wenig die besonderen Umstände von K.s Fall und besprach den allgemeinen Niedergang der Arbeitskultur im Grundsätzlichen.
K. hielt es nicht mehr aus und ging zur Tür. Zu seiner Überraschung fand er sie unverschlossen. Auf dem Flur traf er Lilly, sie rührte mit einem Pürierstab in einer Schüssel und lächelte ihn an. Er fragte sie nach dem Weg zur Toilette. Sie zeigte ihm die Richtung mit einem tropfenden Pürierstab und lächelte erneut. Gequält und mit verkrampften Unterleibsmuskeln lächelte er zurück und humpelte in Richtung Klo. Was für eine Erleichterung, gerade wenn sie dich an fremden Orten erreicht! Erst beim Händewaschen bemerke er einen älteren Herrn, der unter dem Waschbecken kauerte. K. holte zum Schlag aus, aber es wimmerte ihm sogleich - als ob diese Erklärung zur Verteidigung ausreichen würde – von unten ein „Aber ich bin doch der Kaufmann Blöd“ entgegen. Er sah hinab und sah eine zerlumpte hohläugige Gestalt, die ihn mit zittrigen Händen bat, ihn heraufzuziehen. Der Kaufmann reichte ihm kaum bis an die Hüften und zitterte wie ein gefangener Wilder. K. hatte Mitleid und zog den Kaufmann empor.
„Wer bist du denn, du armer Tropf?“ Blöd antwortete nicht wirklich, als er sagte: „Ich zeige dir den Weg zur Küche“. Wenig später standen sie bei Lilly, die eine Suppe für den Arbeitsvermittler kochte. Sie fasste K. an der Hand und ließ ihn neben sich stehen, während sie mit der anderen Hand die Suppe rührte. „Das ist Blöd“, erzählte sie ruhig, während sie Gewürze in die Suppe rieseln ließ. „Er ist auch ein Klient von Hump. Sein Fall währt nun schon fünf Jahre, viel länger als deiner“. K. blickte auf den Kaufmann herab, als hätte dieser durch die längere Dauer seines Prozesses eine größere Würde gewonnen. Er glaubte, seinen eigenen Prozess im Griff zu haben. Aber was bedeutete Glaube? Der Glaube lag schon rein sprachlich hinter dem Wissen. Etwas zu glauben ist nicht so überzeugend, als etwas zu wissen. Dem Glauben liegt die Hoffnung zu Grunde und häufig ist diese Hoffnung durch nichts begründet.
Über dem Küchentisch hing ein Gemälde in einem altmodisch verschnörkelten Rahmen, von dem bereits die Goldfarbe abblätterte. Es zeigte einen weißbärtigen Mann in einer schwarzen Robe, der auf einem Thronsessel saß. Seine linke Hand ruhte auf der Lehne, während die rechte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Betrachter wies. K. setzte sich an den Tisch und betrachtete das Bild lange. „Das muss wohl mein Richter sein.“ Lilly lachte. „Kannst du denn nur an deinen Prozess denken? Das ist der unterste Sachbearbeiter.“ „Aber er sitzt doch auf einem Thronsessel und trägt prächtige Gewänder“, erwiderte K. „Alles nur Täuschung“, erklärte ihm Lilly mit sanfter Stimme, während sie mit seinen langen dunklen Haaren spielte, „in Wirklichkeit sitzt er auf einem Campingstuhl und hat sich eine alte Pferdedecke umgehängt.“ Um ihn von dem Bild abzulenken, setzte sie sich rittlings auf seinen Schoß und küsste ihn auf den Mund. Aus dem Zimmer des Arbeitsvermittlers drang nun ungeduldiger Lärm, doch K. drückte mit gedankenloser Leichtigkeit sein Gesicht an Lillys weiche Brüste und lächelte mit geschlossenen Augen wie ein Kind.
Als K. schließlich die Agentur und Lilly verließ, wartete Grappa-Günter schon vor dem Haustor auf ihn. Es regnete und er war ganz durchnässt. Er packte K. bei den Schultern und schüttelte ihn. „Bist du denn völlig wahnsinnig geworden, deiner Sache solchen Schaden zuzufügen! Verkriechst dich bei dieser kleinen Hure, die überdies ja offenbar auch die Geliebte des Arbeitsvermittlers ist, in der Küche und lässt mich mit Hump und dem Abteilungsleiter allein. Vor allem der Abteilungsleiter, dieser große Herr, dem alle Fälle dieses Stadtbezirks von A bis K vorgelegt werden und der deine Sache im jetzigen Stadium geradezu beherrscht, hätte für dich gewonnen werden sollen. Aber du verschwindest einfach, bleibst unentschuldigt Stunden fort und lässt mich hier im Regen stehen. Hump konnte bei meinem Abschied vor Zorn kaum sprechen, wahrscheinlich hat sich sein Gesundheitszustand durch deine Leichtfertigkeiten erheblich verschlechtert.“

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