Freitag, 26. Dezember 2014

Die Strafe - Fragmente

(die folgenden Passagen wurden vom Autor gestrichen. Der Herausgeber hat sich dennoch entschlossen, diese Textfragmente im Anhang zu veröffentlichen)
Am Tresen fragte ihn ein anderer Trinker: „Was ist los mit dir? Es ist Samstagabend, aber du bist nur besoffen und nicht sturzbesoffen?!“ K. verscheuchte den Geier von seiner Schulter und nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierglas. Der Wirt sah wie immer nichts und spielte gedankenverloren an seiner Zapfanlage. Sie schauten einander lange nicht an.
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K. war aufgewacht aus einem unruhigen Traum. In dieser Nacht war er ein ungeheures Ungeziefer, dessen gepanzerter Rücken unter der Bettdecke verborgen war. Wenn in diesem Augenblick jemand in K.s Zimmer getreten wäre – alles wäre verloren gewesen. K. versuchte, die vielen flimmernden Beinchen an seinem Körper zu ignorieren. Sollte er versuchen, den Kleiderschrank zu verrücken, um sich hinter ihm verstecken zu können? Fieberhafte Angst vor dem gewohnheitsmäßigen Klopfen der Frau Braubach überfiel ihn, welches am frühen Morgen den Tag der Wohngemeinschaft einzuleiten pflegte. Wenn die morgendliche Zeremonie des Erwachens einmal begonnen hatte und das gemeinschaftliche Frühstück in der, freilich saalgroßen, Küche der Wohnung zum Verzehr bereit stand, wäre K.s Fehlen sicher aufgefallen und hätte zu allerlei besorgten Gesprächen Anlass gegeben. Gerade weil Frau Braubach beim Frühappell keine Ausnahmen duldete, hätte seine Abwesenheit ganz sicher zu einem vernichtenden Urteil der anderen Bewohner, also der geradezu auf K.s Niederlagen versessenen Studenten der Betriebswirtschaftslehre, geführt. K. träumte nur von dieser Situation, aber seine Angst war größer, als stünde er in Wirklichkeit vor der Frage, wie er der Frau Braubach seinen Insektenkörper erklären könne. Nervös fuhr er mit seinen Fühlern über die Augen und versuchte, noch einmal Schlaf zu finden und womöglich in einem günstigeren Zustand wieder auf zu wachen.
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In der Kirche: K. suchte einen Zigarettenautomat. Er war nervös und wollte rauchen. Der Himmel verfinsterte sich, auch in der Kirche war fast nichts zu sehen. K. ging die äußere Galerie der Kirche ab; Heilige, deren steinerne Augen voller Leid waren. Schließlich kam er zu einem Kaugummiautomat und fluchte leise. Ein Hinkender schlurfte vorbei und grüßte matt mit leicht erhobener Hand. Und in dieser Geste glaubte K. schon die Verneinung der Frage nach einer Zigarette erkennen zu können. Nervös kratzte er sich die unrasierte Wange und drehte sich um. Aber da war niemand sonst. Auch der Engländer fehlte völlig.
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Lilly küsste seine Augen und seine Stirn. Nachdenklich lächelnd blickte sie in K.s Augen und ließ dann ihren Blick über dessen Gesicht wandern. „Dein Gesicht ist so glatt und schön. Du arbeitest nicht. Das sehe ich dir gleich an. Deine Augenbrauen wirken nicht so düster und zusammengepresst. Sie sind offenbar nie in Sorge zusammen gezogen worden. Deine Mundwinkel sind nicht nach unten gebogen wie bei so vielen. Du lachst viel, deine Augen leuchten. Schau dir die Menschen an, die den ganzen Tag hart arbeiten müssen. Ihre Augen sind erloschen. Es sind lebende Tote, die durch die Warenhäuser und Geschäfte wandern. Aber du bist anders. In dir ist noch das alte Leben“. K. fühlte sich zugleich unendlich geborgen und unendlich allein. Wie sollte er Lillys Vorstellungen gerecht werden? Nahm er Arbeit auf, erlosch in ihren Augen der Glanz seiner Persönlichkeit. Verweigerte er die Arbeit, würde ihn die Behörde so erbarmungslos verfolgen, dass für Gedanken an Lilly keine Zeit mehr bleiben konnte. Am Ende drohte sogar - ihm schauderte bei der Vorstellung - nicht nur Arbeit, sondern womöglich auch noch eine Heirat? Sollte er wirklich in die Armee der Toten eintreten?
P.S.: „Die Strafe“ habe ich 2004 in einer einzigen Nacht geschrieben. Um Mitternacht habe ich mich an den Computer gesetzt und bis um neun Uhr morgens geschrieben, weil ich einmal erleben wollte, wie sich der Arbeitsrhythmus des parodierten Franz Kafka anfühlt. Wie Philip K. Dick, der Dutzende Seiten am Stück schreiben konnte, habe ich Amphetamine und Alkohol als Hilfsmittel benutzt. In der Kunst ist Doping bekanntlich nicht verboten. Wie viele Bilder, Bücher oder Lieder gäbe es nicht, wenn staatliche Kommissionen regelmäßige Doping-Kontrollen im Kunstbetrieb durchführen würden?
Interpol – Leif Erikson. http://www.youtube.com/watch?v=k7g5gOg3kZs

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