Montag, 17. November 2014

2002

Auszüge aus dem Notizbuch:
1. Januar, Schweppenhausen. Neues Jahr, neues Glück, neues Geld. Der Euro gibt mir das Gefühl zu verreisen, ohne die Stadt verlassen zu haben. Überall muss ich rechnen, alle Preise sind anders – von den fremden Scheinen und Münzen ganz zu schweigen. Die alte D-Mark versucht man währenddessen loszuwerden wie die üblichen Urlaubsrestbestände am letzten Tag der Reise – obwohl mir meine letzten Geldstücke doch so vertraut erscheinen.
7. Januar, Berlin. Den ersten Euro erhielt ich am zweiten Januar in einem Stromberger Supermarkt, als ich Sekt kaufte. Die letzte DM habe ich heute für Nudeln mit Steinpilzen in der Kantine ausgegeben.
12. Februar, Berlin. Man frisst so viele Informationen in sich hinein. Und doch scheidet man das meiste wieder unverdaut aus.
3. Mai. Das Lebensmotto und zugleich die Lebensberechtigung des modernen Menschen: Es gibt immer was zu tun. Läuft übrigens auch als Baumarktreklame ganz prächtig.
28. Juni. ... und auf dem Grabstein soll stehen: Genialer Faulpelz.
15. August. Er sprang in ein Taxi und rief dem Fahrer zu: „Fahren Sie mich irgendwo hin, ich werde überall gebraucht.“
16. Oktober. So stellt man sich Berlin anderswo vielleicht vor und so ist es manchmal wirklich: Im Nachbargebäude des Wissenschaftszentrums, in dem ich meine Tage vertrödle, in der Neuen Nationalgalerie, wird die neue Regierungskoalition besiegelt und verkündet. Viel Presse, aber nur wenig zu sehen, da die Regierung wegen einer Greenpeace-Performance den Hintereingang vorzog. Da Mittagspause ist, gehe ich hin und komme sogar an der Security vorbei in den Saal. Da ich aber keinen Presseausweis habe, werde ich wieder hinauskomplimentiert. Nervöse Blicke, offenbar hält man mich für einen Spinner.
21. Oktober. Der berühmte Dichter hatte sich eine Schnittwunde zugefügt, um mit seinem eigenen Blut schreiben zu können. Jetzt fiel ihm nichts mehr ein.
7. November. Humor ist immer auch der Humor der Anderslachenden.
2. Dezember. Ich bin mit Freunden für ein paar Tage nach Rom gefahren. Im August habe ich noch eine alte Freundin in Stockholm besucht, ansonsten habe ich fast meinen kompletten Urlaub in Schweppenhausen verbracht und mir die Fußball-WM angesehen. In Rom ist es so warm, dass mir das Eis aufs T-Shirt tropft. Wir sind in einem Pilgerhotel in der Nähe des Petersdoms. An der Wand hängt kein Fernseher, sondern Jesus. Schwester Brunhilde leitet das Hotel, wir verstecken unsere Weinvorräte, die wir teilweise unter der Jacke hineinschmuggeln müssen, wie Pubertierende auf Klassenfahrt. Tagsüber Kultur (Die „Sehenswürdigkeiten“, um mal einen alten Ausdruck zu benutzen), abends Essen und Trinken in Trastevere. Vor allem auf dem Petersplatz wird das Jahrtausende alte Handwerk des Bettelns noch von uralten Klageweibern gepflegt. Ich sehe, wie eine der Bettlerinnen in einer Seitenstraße verschwindet, wo sie in einen Wagen einsteigt. Ein junger Mann hält ihr die Tür auf. Hut ab vor diesen Profis!
19. Dezember. Ich bin nicht nur allein im hintersten Winkel des Schulhofes, ich bin auch unsichtbar, denn ich habe mir eine Grube gegraben und luge nur gelegentlich unter einem Stein hervor, um die anderen Schüler in ihrem sinnlosen, von allen Überlegungen unbeschwerten Spiel zu beobachten.
Alexander O'Neal - Criticize. https://www.youtube.com/watch?v=N04Q6NaYhCQ

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