Dienstag, 9. September 2014

Theodor Lessing

Wer kann sich noch an den scharfsinnigen und unbequemen Philosophen Theodor Lessing erinnern? Seine Kritik an Politikern und Publizisten, an Gewaltverherrlichung und Geschichtsfälschung ist längst vergessen, doch es lohnt sich, seine Schriften zu lesen. In seinem Hauptwerk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ räumt er mit der Lüge auf, der Mensch gestalte seine Entwicklung selbst und befinde sich auf dem Weg des Fortschritts. Historiker und Politiker seien nur Geschichtenerzähler, die zum eigenen und zum nationalen Vorteil Fakten miteinander kombinieren und in einen kausalen Zusammenhang stellen. Abstrakte Begriffe wie Volk oder Staat würden benutzt, um eine im Wortsinne herrschende Meinung zu konstruieren. Aber Geschichte ergibt keinen Sinn, da sie von Menschen, also von Narren und Bestien, gemacht werde. Je nach Lage wird man für einen Mord mit einem Orden geehrt oder an den Galgen gebracht. Aus Verbrechern werden Helden und umgekehrt – je nach Interpretation der Historiker, Journalisten oder Politiker. Lessing forderte, die Geschichte der Mühseligen und Beladenen zu schreiben, nicht die Geschichte der Erfolgreichen und Mächtigen.
Lessing formulierte seine Kritik oft scharf und sarkastisch, in dieser Hinsicht ähnelt er seinen Zeitgenossen Karl Kraus oder Kurt Tucholsky. Er machte sich über die Vereinfachungen in der Presse, der Politik und der Wissenschaft lustig, die ganzen Völkern Attribute wie „ehrgeizig“, „fleißig“ oder „verlogen“ verlieh. Auch über die Eitelkeit der Menschen spottete er, die ja angeblich immer klüger werden. Jetzt habe man sogar schon die Namen der Sterne entdeckt. Über den Kriegsbeginn 1914 schreibt er aus eigener Anschauung in „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, das er während des Ersten Weltkriegs schrieb, in dem er als Lazarettarzt diente, und das 1919 erschien: „Eine aus Machtwille und Abwehrinstinkt, aus Raubtrieben und Herdenangst gemischte Raserei hatte die Menschen Europas ergriffen. In den Straßen der Städte herrschte Säbelgewalt. Von den Kanzeln, Tribünen, Kathedern gab sich entfesselte Bestialität kund. Die Sprache der Fürsten, der Könige und Kaiser wurde der des Metzgers gemein. (…) Jede Roheit, jede heimtückische Niedertracht Mensch gegen Mensch, jeder böse Trieb galt auf einmal hoch und heilig, sofern er nur im Namen des Vaterlandes und im Dienst des Vaterlandes geübt wurde.“ Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann fand damals „am Luxusschreibtisch, ferne vom Schusse“ ganz andere Worte, die Lessing genüsslich zitiert: „Möchte doch dieser Krieg noch sieben Jahre dauern, damit der sittliche Segen dieser heroischen Zeit noch lange für Deutschland erhalten bleibe“. Über die weitere Entwicklung machte er sich wenig Hoffnung: „Die Entwicklung des Menschen und sein unhemmbar fortschreitender Kulturprozess münden mit unweigerlicher Sicherheit in den – Irrsinn.“ Die moderne Gesellschaft stellte für ihn eine „langsam verrückt gewordene Raubaffenspezies“ dar.
In der Weimarer Republik wurde Professor Lessing von vielen Seiten angefeindet. Aufgrund seiner kritischen Haltung und seiner jüdischen Herkunft, seines Eintretens für Sozialismus und Feminismus wurden seine Vorlesungen von nationalistischen und faschistischen Studenten boykottiert oder gewaltsam unterbrochen. Man forderte die Entziehung der Lehrerlaubnis, etwa tausend Studenten drohten, die Universität zu verlassen. Seine Professorenkollegen an der Universität Hannover solidarisierten sich mit seinen Gegnern. Lessing bezeichnete den Generalfeldmarschall und deutschen Diktator im Ersten Weltkrieg, Paul von Hindenburg, der 1925 zum Reichspräsidenten und damit zum Staatsoberhaupt („Ersatzkaiser“) gewählt wurde, als Null. Aber „besser ein Zero als ein Nero. Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht“. 1926 wurde er vom preußischen Kulturminister auf unbefristete Zeit beurlaubt und durfte nie wieder in Deutschland unterrichten. 1933 floh er mit seiner Frau vor den Nazis in die Tschechoslowakei. Sudetendeutsche Zeitungen verbreiteten, auf Lessing sei ein Kopfgeld ausgesetzt. Am 30. August wurde er von drei nationalsozialistischen Mördern durch das Fenster seines Arbeitszimmers niedergeschossen und erlag am folgenden Tag seinen schweren Verletzungen. Die Täter entkamen nach Deutschland und wurden nie bestraft.

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