Mittwoch, 23. April 2014

Brasilien, Teil 2

Ich bin damals nach Brasilien gereist, weil ich auf eine Beerdigung musste. Früher war ich ein glühender Formel 1-Fan und bin mit meinen Freunden regelmäßig zu den Rennen gefahren. Ich war in Monte Carlo, Monza, Silverstone und natürlich auf dem Nürburgring und dem Hockenheimring. Mein Lieblingsfahrer war und ist Ayrton Senna da Silva. Ich habe ihn viermal hintereinander in Spa-Franchorchamps siegen sehen (1988-1991) und nicht nur dort, das nimmt mir niemand mehr. Als er am 1.Mai 1994 in Imola beim Grand Prix von Italien in der Tamburello-Kurve sein Leben verlor, habe ich hemmungslos geweint wie ein kleines Kind.
Am nächsten Tag saß ich mit N., einem guten Freund und Senna-Fan aus SO 36, in der Taqueria am Heinrichplatz, weil es uns in unserem Schmerz und unserer Hilflosigkeit nach einer Caipirinha verlangte. Was sollten wir tun? Die Sonne war vom Himmel gefallen. Senna ist tot. Und wenn es mit dem Denken nicht mehr weitergeht, muss man etwas machen. Also beschlossen wir, am nächsten Tag nach Sao Paulo zu fliegen, Sennas Geburts- und Heimatstadt, in der er auch beerdigt werden sollte. Wir kamen am Mittwochmorgen um sechs Uhr Ortszeit auf dem Flughafen Guarhulhos an. Als wir gerade ausgestiegen waren und uns zur Passkontrolle begeben wollten, sahen wir, wie sich Soldaten um einen Jet der brasilianischen Fluggesellschaft Varig versammelten. Durch die großen Scheiben sahen wir, wie nur zwanzig Meter von uns entfernt der schlichte Holzsarg mit den sterblichen Überresten des schnellsten Menschen unseres Zeitalters zunächst auf eine Hebebühne und dann behutsam hinab auf brasilianischen Boden gebracht wurde. Eine Militärformation legte eine Fahne über den Sarg und trug ihn zu einem offenen Fahrzeug, auf dessen Ladefläche er aufgebahrt wurde. Inzwischen berichteten Kamerateams neben uns live von dem Ereignis. Die Frauen weinten, während die Flughafenbeamten ihre nassen Augen hinter verspiegelten Sonnenbrillen verbargen.
Als wir in einem Taxi in die Innenstadt fuhren, säumten unzählige Menschen den Weg Sennas vom Flughafen in die Stadt. Sao Paulo ist eine der größten Städte der Erde. Im Ballungsraum leben über zwanzig Millionen Menschen. In der Innenstadt fühlt man sich an Istanbul, Tokio oder New York erinnert – dagegen ist Berlin wirklich ein Kaff und der Ku’damm eine Dorfstraße. Wir nahmen uns ein Hotelzimmer in der Nähe der Praca da Republica im Zentrum und verfolgten die weiteren Vorgänge im Fernsehen. Senna wurde zum Parlamentsgebäude (Assembleia Legislativa) gebracht, also fuhren wir mit dem Bus zum Ort des Geschehens. Im Park, der das Gebäude umgibt, waren mindestens hunderttausend Menschen. Fahnenschwenkende Fans, weinende Mädchen (überhaupt waren drei Viertel der Trauernden Frauen – und selbst grauhaarige Großmütter hatten sich mit Farbe SENNA auf das Gesicht gemalt), Würstchenverkäufer, Reporter, ein in eine weiße Mönchskutte gehüllter Megaphon-Prediger (wir sahen ihn noch in den nächsten beiden Tagen durch die Fußgängerzone in der City ziehen) und natürlich: die Schlange.
Ich dachte, die Schlange vor Lenins Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, in der ich 1984 gestanden habe, würde die längste meines Lebens bleiben. Weit gefehlt! Über eine Stunde liefen wir an ihr entlang, nur um das Ende zu finden. Kilometerlang zog sich die Menschenreihe über Brücken und Straßenkreuzungen. Wir beschlossen, erst einmal ein paar Bier zu trinken und die größte Hitze abzuwarten. Am Abend stellten wir uns dann ganz hinten an. Inzwischen hielten sich die Leute an den Händen. Nach zweieinhalb Stunden, N. sank tatsächlich eines der vielen ohnmächtigen Mädchen in die Arme, waren wir am Sarg. Der berühmte gelbe Helm und eine Rose lagen auf dem Deckel, im Hintergrund Angehörige und Prominenz. Vor der Halle zahllose Kränze und Andenken, die von den Fans hinterlassen wurden. Bis um acht Uhr am nächsten Morgen standen die Menschen an. Ich denke, einen solchen Abschied hat es, abgesehen von Inszenierungen in totalitären Staaten, wohl das letzte Mal beim Tod von Elvis Presley 1977 gegeben.
Am nächsten Morgen, es war inzwischen Donnerstag, war die Beerdigung auf dem Cemiterio de Morumbi, mitten in einem gepflegten Vorort im Südwesten Sao Paulos. Überall in der Stadt hingen Fahnen (die offiziellen auf Halbmast wegen der dreitägigen Staatstrauer) und Transparente mit der Aufschrift „Valeu Senna“. Eine Deutsch-Brasilianerin, die wir dort kennenlernten, übersetzte es mit: Vielen Dank, Mach es gut, Auf Wiedersehen, Es war schön. Der Begriff hat also eine ganze Vielfalt von Bedeutungen. Mit dem Taxi fuhren wir bis auf etwa zwei Kilometer an den Friedhof heran, zum Gutteil die Strecke, die der Leichenzug nehmen sollte. Überall Menschen, viele mit Transparenten und Fahnen – es sollen etwa drei Millionen gewesen sein. Wir standen in der Nähe des Friedhofeingangs, als der Zug vorbeikam: erst Motorräder und Polizeifahrzeuge, dann eine Reiterformation und danach der Wagen, auf dem der Sarg aufgebahrt war. Als der Leichenzug vorbei war, rannten einige Menschen in einen Feldweg hinein. Wir folgten ihnen wie in Trance, liefen durch Wald und sumpfige Wiesen zum Friedhofszaun. Überall Polizei und Militär. Dennoch gelang es uns, an den ersten Reihen vorbeizukommen und aus etwa hundert Meter Entfernung die Beerdigungszeremonie zu sehen.
Ayrton Senna ist ein Mensch, auf den die Brasilianer bis heute stolz sind. Kurze Zeit nach seinem Tod gewann die brasilianische Fußballnationalmannschaft die Weltmeisterschaft und widmete ihm ihren Titel. Am 1. Mai ist sein zwanzigster Todestag, und ich werde mit dem Freund, mit dem ich damals zur Beerdigung geflogen bin, in einem Bamberger Gasthaus auf ihn anstoßen. Valeu Senna!
P.S.: Für die musikalische Begleitung sorgt die unvergessene Maria Callas mit „O mio babbino caro“ aus der Puccini-Oper „Gianni Schicchi“. Sie hatte das unergründliche Lächeln einer antiken Statue. Dieses Lächeln strahlte Würde und zugleich Gelassenheit aus, es war meilenweit von dem seelenlosen Grinsen der heutigen Reklameschönheiten entfernt. Danke, Maria! Ein Leben ohne Musik ist möglich, aber sinnlos. http://www.youtube.com/watch?v=rnkhtjpZAqQ

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