Dienstag, 22. April 2014

Berlin zwischen Leben und Tod

Berlin lässt sich in drei Arten von Flächen und Gebäuden unterteilen: Orte des Lebens, Orte der Leblosigkeit und Orte des Todes. Fangen wir mit den Orten des Lebens an, denn noch ist die Stadt voll davon: Der Mauerpark, das Tempelhofer Feld oder die Spielplätze der Kinder vibrieren an schönen Tagen vor Virilität. Hier treffen sich die Menschen, die den Mut haben, ihre Wohnschachteln zu verlassen und den Blick von Monitoren und Displays zu erheben. Auf der anderen Seite gibt es Orte des Todes. Der Mauerstreifen ist ein Paradebeispiel. Er erinnert uns an die blutige Vergangenheit dieser Stadt. Wir erinnern uns offensichtlich nicht gerne an den dunklen Teil unserer Geschichte, deswegen ist der Berliner Senat auch unaufhörlich darum bemüht, den Mauerstreifen zu überbauen und die Mauerreste wie die East Side Gallery zu perforieren.
Viele Orte des Todes sind gar nicht mehr als solche bekannt oder zu erkennen. Nehmen wir als Beispiel das Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin in der Ihnestraße. In diesem Gebäude – und im gegenüberliegenden Neubau – habe ich studiert. Das Gebäude war bis 1945 Sitz eines staatlichen Forschungsinstituts für „Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“. Der Massenmörder Dr. Josef Mengele lieferte aus den deutschen Konzentrationslagern menschliche Präparate für die „wissenschaftliche Arbeit“ in diesem Gebäude. Wir haben es nie gerne betreten. Es war, als sei dieses Haus durch das menschliche Leid spirituell verseucht. Nach meiner Promotion habe ich sechs Jahre lang am Deutschen Institut für Urbanistik gearbeitet. Das Institut befand sich damals noch im Ernst-Reuter-Haus (Straße des 17. Juni 110-114). In diesem Gebäude war bis 1945 im Ostflügel die „Organisation Todt“, das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, und im Westflügel Hitlers Chefarchitekt Albert Speer mit seinen Mitarbeitern untergebracht. Von hier aus wurden Zwangsarbeiterheere dirigiert und das industrielle Töten organisiert. Auf dem Dach des Gebäudes war noch die Plattform der Flakstellung zu sehen. Es ist ein bedrückendes Gefühl, in diesen Räumen zu arbeiten. Wo ich mit meinen dunkelblauen Chucks und in meiner abgewetzten Jeansjacke durchgeschlurft bin, haben früher Nazis gearbeitet. In ihren grauen Uniformen haben sie ihre Vorgesetzten morgens mit einem zackigen „Heil Hitler“ begrüßt. Auf ihren Schreibtischen haben sie den Stempel auf Todesurteile gedrückt. In diesem Haus lebte einmal der Hass.
Kommen wir zurück ins Jahr 2014: Die Stadtplanung und die Bauherren produzieren gegenwärtig permanent neue Orte der Leblosigkeit. Lebendige Orte wie der Mauerpark und das Tempelhofer Feld sollen bebaut werden. Die Flächen werden bis zur Bürgersteiggrenze und bis auf den letzten Nanometer für gruselige Betonmonster ausgereizt und falls der Bebauungsplan eine taschentuchgroße Fläche für andere Zwecke vorsieht, bastelt man etwas Alibi-Grün in eine Ecke, das mit Natur nichts mehr zu tun hat. Orte der Leblosigkeit sind etwa die Treptow Towers und die zahllosen anderen neuen Bürowürfel, aber auch das neue Wohnviertel in Stralau oder die seelenlose Hässlichkeit namens „Bundesschlange“ am Moabiter Spreeufer. Es sind Totgeburten der Effizienz. Gebäude vom Fließband. Endlose Fensterreihen im Gleichschritt. Kalte Farben. Industriegebüsch, an dem noch das Preisschild baumelt. Pjöngjang an der Spree. Und was für die Architektur gilt, kann auch für die Planung des Berliner Senats konstatiert werden. Die Debatte um das Tempelhofer Feld beleuchtet schlaglichtartig das Kernproblem der aktuellen Stadtentwicklung: Die Kurzfristigkeit der Profitmaximierung führt zu einer Kurzsichtigkeit der Planung. Es wird systematisch ausgeblendet, dass Flächen, wenn sie erst einmal bebaut sind, für die Allgemeinheit für immer verloren sein werden.
Auf lange Sicht muss Berlin sich entscheiden: Leben oder Tod? In welche Richtung wird sich die große Stadt entwickeln? Im Augenblick manifestiert sich in Berlin die kommunal geplante und von den unterschiedlichsten Bauherren umgesetzte Leblosigkeit. Die Bedeutungslosigkeit der aktuellen Architektur ist eine direkte Folge der Mut- und Einfallslosigkeit der Bauherren, sei es die öffentliche Hand oder private Investoren. Innovative Planer und Architekten bekommen in der Hauptstadt keine Chance. In Berlin wird die geistige Verelendung dieser Republik in Beton gegossen.
P.S.: Tiger, die Kralle von Kreuzberg, klärt uns über das Leben auf der Baustelle Berlin auf. http://www.youtube.com/watch?v=d0T9dHn0MSU. Aber auch seine anderen Kommentare sind sehenswert. Pars pro toto: http://www.youtube.com/watch?v=bX48mq88IdM. Tamam!

5 Kommentare:

  1. Einer meiner Auftraggeber bewohnt ein Townhouse, in der Nähe der Leipziger Strasse. Es ist eines von mehreren „Townhäusern“. Diese sind wie Schneeflocken: keines gleicht dem anderen. Diese Gegend ist geprägt von hoher Individualität. Auch von innen. Alles sehr schön und eindrucksvoll. Dieser Auftraggeber ist Millionär.

    Ich verstehe, wenn man die Monotonie moderner Wohnanlagen nicht mag aber so sieht bezahlbarer Wohnraum aus. Und den will man und braucht man. Wer da nicht sein will, muss über mehr Ressourcen verfügen. Daran ist nichts Neu oder überraschend.

    Ich verstehe immer besser wenn gesagt wird: Wer Welt, Gesellschaft und die Menschen verstehen will, der sollte Wirtschaft studieren und nicht Politik/Soziologie/etc.. :)

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    1. Herzlichen Dank für Ihren interessanten Debattenbeitrag. Ich würde Ihre Thesen zu Fragen der Stadtentwicklung und der Studienfachwahl gerne mit Ihnen persönlich diskutieren. Dann könnten wir uns auch etwas besser kennenlernen, ein anonymer Brief hinterlässt bei mir immer ein gewisses Gefühl der Unzufriedenheit. Als Ort schlage ich Ihr Townhouse in der Nähe der Leipziger Straße vor. Jetzt brauchen wir noch einen Termin. Lassen Sie mich mal in meinem Terminkalender nachschauen ... mhm … diese Woche ist schlecht. Aber wie wäre es mit nächster Woche? 1. Mai?

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    2. Danke für Ihren Vorschlag. Sind Sie denn in Berlin?

      Jetzt um den ersten Mai herum ist es schlecht, ich bin tatsächlich im Umzugsstress. Es wird vermutlich (hoffentlich) die Leipziger Strasse werden. Kein Townhouse, eines der Hochhäuser dort. Zentral, dennoch off und ziemlich brutal.

      Dann aber komme ich darauf zurück. Wir sprechen dann. Mit Blick auf Berlin. :)

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  2. Ha !
    Dazu muss man Jahrelang studieren, auch noch ausgerechnet Wirtschaftswissenschaften, um den Satz " Geld regiert die Welt " zu verstehen ?
    Hier zitiere ich gerne einen meiner Lieblingskabarettisten Volker Pispers, der da sagte:
    " Wirtschaftswissenschaftler ? Was dümmeres finden Sie in keinem Zoo."

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  3. Hallo Matthias Eberling,
    im Sockelgeschoss des Ernst-Reuter-Hauses leben immer noch vergessene Nazigeister, die gerne geeignete Mitarbeiter des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung noch heute inspirieren. Es gibt im BBR eine Reihe von Führungskräften, die nach dem guten alten Vorbild der Nazis sich in erfolgreich Rechtsbeugung praktizieren. Heute wird nicht mehr industriell getötet, sondern lediglich Steuergeld und menschliche Schöpferkraft vernichtet. Der mit dem Hakenkreuz geschmückte Grundstein ist nicht ohne Grund öffentlich zugänglich.
    Der derzeitige Präsidentin Frau Wesseler sind die alten Geister zwar etwas unheimlich, doch aus Furcht vor dem Denkmalschutz stellt sie sich vorauseilend schützend vor die mit den Nazimethoden praktizierenden Führungskräfte.

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