Montag, 24. März 2014

Besuch in Berlin – erster Tag

Nach neunmonatiger Abwesenheit habe ich mal wieder meine alte Heimatstadt Berlin besucht. Der Schalterbeamte, der mir die Zugfahrkarte verkauft, ist mein alter Kneipenkumpel Duffy (eigentlich heißt er Elmar und wohnt noch in seinem Kinderzimmer), was mir wieder einmal beweist, wie klein die Welt Rheinhessens doch ist. Auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, wo ich in den ICE umsteige, habe ich plötzlich das Gefühl, auf eine lange und aufregende Weltreise zu gehen. Das Gefühl verschwindet schlagartig, als sich zwei Unternehmensberater in anthrazitfarbenen Anzügen zu mir ins Abteil setzen.
Während ich schweigend am Fenster sitze und hinaus schaue, unterhalten sich die beiden über ein Meeting, das sie gerade hatten. Trotz ihrer grauen Haare und der unübersehbaren Glatzenbildung sprechen die Männer im Jugendslang – oder was in ihrer Jugend einmal Slang gewesen sein mag: „krass“, „echt geil, ey“ und „voll die Härte“. Sie müssen als nächstes zur Compliance-Abteilung zu VW in Wolfsburg. Während sie sich unterhalten, starrt der eine auf den Monitor seines Notebooks und der andere auf das Display seines Smartphones. Mister Notebook fragt Mister Smartphone nach den zukünftigen Projekten. Dieser antwortet, er habe noch Arbeit für vier Wochen, dann mache er Urlaub, er habe noch fünfzehn Tage vom letzten Jahr übrig. Später erzählt er von einem Kollegen der jeden Morgen um 7:15 Uhr im Zug sitzt und zum Kundenunternehmen fährt. Erst um 20:30 Uhr sei er wieder zu Hause – und das mache er seit drei Jahren. Mister Notebook klimpert derweil mit der Geschwindigkeit eines Jazzpianisten auf seiner Tastatur und kommentiert die Erzählung mit einem gelegentlichen „Okay“. Als wir in Göttingen halten, schlägt Mister Smartphone grinsend vor, einfach nach Berlin weiterzufahren. „Bin sofort dabei“, sagt Mister Notebook.
Gelegentlich schauen sie verstohlen zu mir hinüber. Wahrscheinlich bin ich ihnen unheimlich, denn ich sitze Stunde um Stunde regungslos und schweigend wie ein tibetanischer Mönch am Fenster. Mein Handy klingelt kein einziges Mal, ich lese nicht und mache einfach gar nichts, völlig terminfrei und planlos – was für diese agilen Macher irritierend sein muss. In Wolfsburg steigen sie aus, ohne sich zu verabschieden.
Ich komme am späten Nachmittag am Berliner Hauptbahnhof an und fahre mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo. Hier tauche ich zum ersten Mal wieder in das Leben der Großstadt ein. Es mag überraschen, dass mein erster Eindruck von dieser Stadt sich vermutlich in nichts von den Eindrücken anderer Besucher unterscheidet, trotz zwanzig Jahren Berlinerfahrung: Ich wundere mich über die vielen Leute, die unterschiedlichen Sprachen und den großen Lärm. Zehn Gehminuten weiter, in meinem alten Kiez zwischen Prager Platz und Winterfeldtplatz, ist aber alles schön entspannt. Nichts scheint sich geändert zu haben. Überraschenderweise gibt es immer noch die winzige Medienagentur, der ich von Anfang an keine großen Überlebenschancen eingeräumt habe; überraschenderweise gibt es den orientalischen Teppichladen nicht mehr, der mit schöner Regelmäßigkeit alle drei Monate aus wechselnden und geradezu melodramatischen Gründen einen Räumungsverkauf mit Preisnachlässen bis zu neunzig Prozent veranstaltet hat. Vor meinem Haus treffe ich eine Nachbarin, die mich fragt, wohin ich denn verschwunden wäre. Im Haus hatte sich das Gerücht entwickelt, ich sei auf Weltreise gegangen. Wie rührend, neun Monate … Immerhin dachten sie nicht, das ich im Knast gesessen hätte.
Später der sorgenvolle Krankenschwesternblick der blutjungen Kellnerin, als sie mir das dritte Bier bringt. Ich habe nichts zu essen bestellt und lese gemütlich den ollen „Tagesspiegel“. Beim Lesen denke ich an die traurige Dogmatikerin aus der taz-Redaktion, die mir früher immer Horrorstorys aus ihrem mies bezahlten Berufsalltag erzählt hat. Wenn jetzt 8,50 Euro Mindestlohn kommen, wird der Laden vermutlich dicht gemacht. Später bringt die Kellnerin mir zu ihrer eigenen Beruhigung gesalzene Erdnüsse. Wenn ich mir solche Sorgen um die Kundschaft machen würde, könnte ich unmöglich hauptberuflich Suchtstoffe ausgeben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen