Dienstag, 31. August 2010

Hören und Sehen vergehen

Meine Nachbarin ist ein Messie. Jahrelang habe ich ihr Hämmern gehört. Ein leises ausdauerndes Hämmern. Nicht so, als ob größere Arbeiten zu hören gewesen wären. Das leise Hämmern kleiner Hände mit kleinen Werkzeugen auf kleine Nägel. Auf der anderen Seite der Wand, in die diese Nägel geschlagen wurden, steht mein Bett. Am Ende des tausendfachen Klopfens stellte ich mir diese Wand immer als eine Galerie winzigster Gemälde vor, die alle mit einem einzigen Nagel befestigt waren. Die ganze Wand voller winziger Bilder in winzigen Rahmen.

Jetzt hat sie einen Maler gerufen, der ihre Wohnung renoviert hat. Am Ende seiner Arbeit, während immer noch ihre merkwürdigen Möbel auf dem Hausflur stehen, drängt sie mich förmlich in ihre Wohnung, die ich in all den vielen Jahren nie von innen gesehen habe. Die Wände sind neu gestrichen und es findet sich nicht ein einziges Bild an der Gegenwand zu meinem Schlafzimmer. Ihr Bett steht tatsächlich direkt auf der anderen Seite der Wand, unsere Köpfe sind in der Nacht also nicht viel mehr als einen Meter voneinander entfernt. Die Nachbarin scheint zufrieden, während sie in endlosen Monologwellen von ihren neuen Kieferholzmöbeln erzählt. Sie wirkt fast, als würde sie triumphieren.

Samstag, 7. August 2010

Die Insel


Je näher ich der Insel kam, desto unruhiger wurde ich. Mein Auftrag war nicht genau definiert und ich hatte keinerlei Informationen über die Situation, die mich erwarten sollte. Die Besatzung der kleinen Station war seit vergangenem Sommer hier und meldete sich nur routinemäßig via Internet bei der Basis auf dem Festland. Alle drei Monate warf ein Versorgungsflugzeug eine Palette mit Konserven, Medikamenten und anderen Dingen des täglichen Bedarfs per Fallschirm ab.

Die Silhouette der Insel war durch die Doppelspitze eines Berges im Westen geprägt, dessen Steilhang von Gischt und Wellen umspült wurde. Nach Osten war eine langgestreckte Ebene zu erkennen, deren Mitte bewaldet war. Insgesamt war die Insel etwa sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit. Die Lage der Station kannte ich nicht genau. Der Strand war leer, als ich den Motor stoppte und den Anker ins graue Meerwasser warf. Es war kühl und ich zog meine Windjacke an. Ich ließ das kleine Schlauchboot zu Wasser und ruderte die letzten Meter ans Ufer. Dort zog ich das Boot auf den Sand und sah mich um: Keine Fußspuren, keine Zeugnisse menschlichen Lebens.

Hinter dem breiten Sandstrand gab es einige Dünen, die mit Strandhafer bewachsen waren. Dahinter standen ein paar niedrige windzerzauste Bäume. Es schien, als würden sie mich aus den tiefen Löchern in ihrer Rinde anfunkeln. Ich ging weiter in Richtung des Waldes. Eine rote Plastiktüte wehte raschelnd an meinen Füßen vorbei. Alles war seltsam tot, keine Vögel waren zu hören. Im Wald blieb der Boden sandig, auch wenn er an manchen Stellen mit einem dicken Pelz von Kiefernnadeln bedeckt war. Über mir rauschte der Wind in den Wipfeln der Bäume. Nach einer halben Stunde kam ich an einen Trampelpfad, auf dem sich undeutlich Fußspuren abzeichneten. Ich folgte dem Weg nach links und stand bald darauf vor den Sperrholzwänden der Station, die auf einer Lichtung errichtet worden war.

Niemand war im Inneren. Auf dem Boden fand ich verblichene Kleidungsstücke, die zerstreut herumlagen. Auf einem Schreibtisch lagen Stapel von Papieren, teils zerrissen oder zerknüllt. Im Vorratsraum standen palettenweise Konserven, die noch nicht ausgepackt waren. Ich ging um die Station herum, aber ich konnte niemanden entdecken. Möglicherweise war die Besatzung an den Messgeräten, die über die Insel verteilt aufgebaut waren. Ich verließ die Station und ging in Richtung des Bergrückens weiter. Am Fuße des Berges war dichtes Dornengestrüpp, so dass ich nur mühsam vorwärts kam. Nachdem ich etwa dreihundert Meter den Hügel hinauf gekrochen und gelaufen war, lichtete sich das Gestrüpp und gab den Blick auf eine Höhle frei. Ich zögerte einen Augenblick, dann ging ich hinein. Sie war nicht sonderlich groß, hinter einem Felsvorsprung entdeckte ich jedoch einen Gang, der in die Tiefe führte. Ich holte meine Taschenlampe aus der Jackentasche und folgte ihm.

Nachdem ich etwa zehn Minuten den Windungen des Ganges nach unten gefolgt war, kam ich in eine große Höhle. In einer Nische war der Boden von Sand bedeckt, in dem ich den Abdruck eines menschlichen Körpers zu entdecken glaubte. An zwei Stellen gab es weitere Gänge und ich entschied mich für den rechten, der allerdings kurze Zeit später an einer Felswand endete. Also nahm ich den anderen Weg. Bald darauf hörte ich Klopfgeräusche. Je näher ich kam, desto lauter wurden sie. Rhythmisches Klopfen, langsam und gleichmäßig. Nach einigen Wendungen des Höhlengangs sah ich ihn vor mir: Er hatte wildes schwarzes Haar und ein dreckverschmiertes Gesicht. Offenbar hatte er mich nicht bemerkt, denn er arbeitete unverdrossen weiter an der Erweiterung des Gangs.

„Hallo!“
Er drehte sich mit einem Ruck um und sah mich mit panischem Entsetzen an. Ihm stockte der Atem und er ließ Hammer und Meißel fallen.
„Ich bin gekommen, um die Station zu besuchen.“
Er starrte mich ungläubig an und begann zu zittern.
„Wo sind denn die Anderen?“
Er fasste sich mit verkrampften Händen an die schmutzige Brust, die von einem zerschlissenen Hemd bedeckt war.
„Können Sie mich verstehen?“
Ich trat näher an ihn heran. Er sackte zu Boden und blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen.
„Was ist denn passiert?“

Ich beugte mich zu ihm hinunter. Es war nur noch ein leises Wispern, kaum zu verstehen: „Alle ... tot. Sie haben ... alle geholt. Muss ... hier weg. Weg ...von ...hier.“ Dann starb er.

Mittwoch, 4. August 2010

Die Grenzen der Ökonomie


Ein Ökonom und ein Soziologe spazieren an einem Sonntagnachmittag an einem Ausflugslokal vorbei. Das Wetter ist schön, an den meisten Tischen sitzen Menschen bei Kaffee und Kuchen. Was sehen die beiden Herren, wenn sie vorüber schlendern?

Der Ökonom sieht Leute, die eine Tasse Kaffee für drei Euro trinken, obwohl sie sich zu Hause für zehn Cent selbst eine Tasse aufbrühen könnten. Sie zahlen also den dreißigfachen Preis. Genauso ist es mit dem Kuchen. Für das Geld, das ein Stück Torte kostet, könnte man im Supermarkt zwei ganze Industriekuchen kaufen. Sie haben Fahrtkosten gehabt, um das Ausflugslokal zu erreichen. Sie haben Zeit verschwendet. Außerdem haben sie sich der potenziellen Gefahr von Verkehrsunfällen und Raubmorden ausgesetzt, als sie das Haus verlassen haben. Das alles ist irrational und ineffizient. Für den Ökonomen wird sich das Mysterium einer sonntäglichen Kaffeetafel am Wannsee nie erschließen. In seiner Welt dürfte es eigentlich gar keine Ausflugslokale geben.

Was sieht der Soziologe? Für ihn ist alles völlig normal. Er sieht Menschen bei einem liebgewonnenen Ritual. Er weiß, dass rationales und effizientes Verhalten nur ein Teil des menschlichen Lebens ist - an Sonntagnachmittagen ein sehr kleiner Teil. Er weiß, dass Traditionen und Routinen einen großen Einfluss auf das alltägliche Verhalten haben. Wir möchten nicht jedes Mal darüber nachdenken müssen, warum wir etwas machen. Schon mit unseren Eltern und Großeltern sind wir Sonntags Kuchen essen gegangen, die Kinder und Enkel werden es vermutlich genauso machen. Es ist einfach angenehm, ein wenig „unter die Leute zu gehen“, auch wenn man mit niemandem am Nachbartisch spricht. Der Mensch ist ein Herdentier, er gesellt sich gerne zu anderen so wie Kühe einfach gerne mit anderen Kühen auf der Wiese stehen. Der soziologisch geschulte Blick sieht Freizeitspaß, Lustbefriedigung und zweckfreie Interaktion.

Hören wir nicht auf die Ratgeber aus den Wirtschaftswissenschaften, auf Anlageberater, Marktschreier und Börsenheinis. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben haben mit instrumenteller Rationalität und effizienter Planung nichts zu tun. Häufig sind sie sogar umsonst.