Mittwoch, 1. Juli 2009

Es war einmal im Brunnenviertel


Inmitten des Gleimtunnels, dort wo er am dunkelsten und unheimlichsten ist, gibt es ein rundes Loch in der Wand, durch das eine ausgewachsene Katze nicht hindurchpassen würde. Hinter dem Loch liegt ein langer, langer Gang, der in die Tiefe führt. Dort unten in der Finsternis liegt eine Höhle, und in dieser Höhle, die so tief in der Erde verborgen ist, dass man sie als Dachstuhl des Teufels bezeichnet, lebt ein Kobold, der sich selbst den Namen Gleimi gegeben hat. Er ist so groß wie eine Männerhand, trägt eine dunkelblaue Hose, eine ebensolche Jacke, schwarze Stiefelchen und einen spitzen roten Hut. In seiner Höhle hütet Gleimi einen Schatz, den ein Nazi hier vor vielen Jahren vergraben hat. Anstatt sich nun aber auf seinem Schatz auszuruhen, nimmt er jede Nacht Spitzhacke und Schaufel, um unter der Oberfläche nach neuen Schätzen zu suchen. Tagsüber manifestiert sich Gleimi im Streichelzoo hoch über dem Tunnel als Meerschweinchen, das nicht auf den Namen Manfred hört. Die Leute von den "Berliner Unterwelten" kennen den Kobold schon seit langem und grüßen artig, wenn sie ihn in dunklen Ecken rumoren hören. Meist sieht man aber nur sein Werk, kleine Höhlen und Gänge, die sich neben den Höhlen und Gängen der Menschen zwar gering ausnehmen mögen, aber wie ein feines Netz die Erde unter dem Gleimtunnel, dem Park und den angrenzenden Häusern durchziehen. So lebt der kleine Racker alle Tage, und wenn er gar zu übermütig wird, reitet er singend auf seinem dressierten Maulwurf durch die dunklen Weiten unter dem Brunnenviertel. In letzter Zeit wird der Kobold aber gestört, Maschinenlärm dröhnt am alten Bahndamm und lässt die Erde erzittern. Es hört sich an, als schlüge ein Riese mit Eisenketten auf eine Felswand. Die Maschinen vertreiben ihm die Würmer, aus denen er sich ein Süppchen zu kochen pflegt, und machen es ihm unmöglich, das Gold in der Erde wachsen zu hören. Was soll Gleimi nun machen? Soll er sich an das zuständige Bezirksamt wenden? Leserbriefe schreiben? Nein, denn er ist ein Kobold und Kobolde halten nichts von Politik und Medien. Und so füllt er eines Nachts ein Säckchen mit feinstem märkischen Sand und schleicht sich an die Tankklappe – das klingt übrigens wie Tarnkappe und die kommen in Märchen ja häufig vor – eines Baggers an.

- Fortsetzung folgt -

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