Montag, 19. Januar 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 2




Neulich lag das Dankesschreiben des World Wildlife Fund im Briefkasten, in dem sich die Organisation für Mardos Spendenzahlung über fünftausend Euro bedankte. Sie hatten seinen Namen sogar auf die Liste der besonders großzügigen Spender gesetzt, die auf ihrer Homepage veröffentlicht wurde. Obwohl Mardo sicherlich der bescheidenste Mensch auf der ganzen Welt war, konnte er diese Ehre nicht ablehnen. Aber wie kam ein einfacher Privatdetektiv eigentlich zu einer solchen Summe? Alles fing mit einem Shar-Pei an, einem chinesischen Faltenhund. Genauer gesagt fing alles wieder einmal mit einem Telefonanruf an.



Mardo hatte die Bambus-Rollos an seinem Bürofenster herunter gelassen und dachte gerade im Halbdunkeln über sein Leben nach, als das Telefon klingelte. Finke hieß der Mann, in einer halben Stunde sollte Mardo in sein Büro kommen. Welchen Auftrag würde der Privatdetektiv heute bekommen? Ging Finkes Frau fremd? Oder war es etwas Geschäftliches? Finke war ein bekannter Möbelhändler, vielleicht war eine Ladung Einbauschränke aus der Ukraine irgendwo verschwunden?
Mardo zog seinen anthrazitfarbenen Wintermantel an und stülpte eine Wollmütze über die kurzen schwarzen Haare. Er ging die Ramlerstraße hinunter in Richtung Brunnenstraße. Auf der anderen Straßenseite lief ein älterer Herr mit seinem Schäferhund, der auf den schönen Namen Karl-Heinz hörte. Mardo kannte nur den Namen des Hundes, der alte Mann rief ihn regelmäßig mit krächzender Stimme, mal drohend, mal bittend. Er ging über die Brücke, unter ihm die Gleisanlage des Bahnhofs Gesundbrunnen. Vor ihm gingen ein paar Jugendliche, aus deren Ohren Kabel hingen. Eine Frau mit Kopftuch und Einkaufstasche kam ihm entgegen, auf der Brunnenstraße schlich der 247er vorüber.
Auf der Badstraße wurde die Menschenmenge dichter, hier reihte sich Geschäft an Geschäft. Mardo bog in die Pankstraße ein. Hier lag das Möbelhaus Finke, gegenüber der trutzigen Fassade des Amtsgerichts Weddings, eines typischen Beispiels wilhelminischer Einschüchterungsarchitektur. Dahinter floß die Panke, an der Mardo im Sommer gerne spazieren ging.
Kurz darauf saß er in einem mäßig bequemen Bürostuhl, vor sich einen mächtigen weißlackierten Schreibtisch, dahinter der aufgequollene kahle Schädel des Geschäftsführers.
"Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Es geht um Bodo, er ist entführt worden."
Mardos Herz setzte einen Schlag aus. Entführung war nicht ganz seine Liga, bei Schwerverbrechen hatte man es im Regelfall mit Schwerverbrechern zu tun. Und solche Leute waren gut bewaffnet und selten allein. Mardo hatte nur Pfefferspray in der Manteltasche. "Ich nehme an, es handelt sich um Ihren Sohn. Die Polizei ist hoffentlich schon informiert. Obwohl die Erpresser ja stets davor warnen, empfehle ich Ihnen ..."
"Nein, nein." Finke lächelte. "Es geht um meinen Hund."
"Ich soll also ihren Hund finden?" Mardo stutzte. Einen Hund suchen? In dieser Stadt? An diesem nasskalten Januartag durch Parks und Hinterhöfe laufen, während ein Stück Hundekuchen in seiner Manteltasche zerbröselte? Sein Vater hatte ihm immer geraten, einen anständigen Beruf zu erlernen. Joao Mardo war in den siebizger Jahren aus Porto nach Berlin gekommen und hatte bei der AEG gearbeitet, bis die Firma Anfang der achtziger Jahre pleite gegangen war. Den Vornamen verdankte Jan Mardo seiner tschechischen Mutter.
"Nein, den habe ich bereits wieder. Sie sollen die Entführer finden. Niemand stiehlt Rüdiger Finke tausend Euro!"
"Was ist passiert?"
Finkes Stirn legte sich in Falten, seine Stimme wurde dunkler und drohender. "Diese Entführer haben sich an meine Frau gewandt, sie hat anstandslos bezahlt. In der darauffolgenden Nacht wurde uns der Hund zurück gebracht, er war vor Haus unserem Haus in Wilmersdorf angebunden. Meine Frau hat mir erst Tage später davon erzählt. Sie können sich vorstellen, wie wütend ich war. Unser Hund wurde täglich von einer Hundesitter-Firma ausgeführt, am Vinetaplatz ging er angeblich verloren. Vielleicht schauen Sie sich die Typen von dieser Firma ja mal an."
Mardo ließ sich die Adresse der Hundesitter-Firma und die Telefonnummer von Finkes Frau geben. Er tippte die Nummer in sein Handy, als er zum U-Bahnhof Nauener Straße ging, vorbei am Amtsgericht, über die Panke. In diesem Kiez hatten am 1. Mai 1929 die Barrikaden gebrannt. Heute war der Wedding wintergrau, nicht rot.
"Finke-Bärlauch", meldete sich eine hell singende Stimme.
"Mein Name ist Jan Mardo. Ihr Mann hat mich wegen der Hundeentführung engagiert."
"Ach, Rüdiger ist immer so aufbrausend. Aber gerade ist eine Freundin von mir hier, deren Hund ist auch verschwunden. Vielleicht kommen Sie einfach mal vorbei, dann können wir reden. Da könnte es doch einen Zusammenhang geben, oder?"
Mardo gab ihr Recht und drückte die Aus-Taste.



Mit der U 9 fuhr er tief ins Herz des gutbürgerlichen Berlins und stieg am Walther-Schreiber-Platz aus. Überall restaurierte Altbaufassaden, keine Graffiti. So hätte das Brunnenviertel auch aussehen können, aber wirtschaftlicher Niedergang und städtebauliche Experimente hatten sein Gesicht hässlich gemacht.
Finkes bewohnten eine riesige Maisonettewohnung in der Odenwaldstraße. Frau Finke-Bärlauch begrüßte ihn an der Tür, artig ließ Mardo seinen Mantel und seine Mütze an der Garderobe. Er folgte der Gastgeberin durch eine völlig überheizte Wohnung. Auf einem niedrigen Glastischchen standen geblümte Kaffeetassen und Teller. Auf dem Sofa saß eine Frau mittleren Alters, die Mardo erwartungsfroh anlächelte.
"Guten Tag. Meine Name ist Silvia Lotze. Ich hätte mir einen Detektiv aber größer und kräftiger vorgestellt."
Mardo lächelte verlegen, während er sich in einem Sessel sinken ließ. Er war tatsächlich nur ein Meter siebzig groß und von schmächtiger Statur. "Heutzutage werden die Fälle nicht mehr durch Muskelkraft gelöst, sondern mit Ausdauer und Kombinationsgabe." Es hörte sich besser an, als er sich fühlte. Schließlich arbeitete er gerade einmal ein halbes Jahr in diesem Beruf.
Dann erzählte Frau Lotze ihre Geschichte. Alles hörte sich genauso an wie im Büro von Herrn Finke. Auch der Name der Hundesitter-Firma war der gleiche: Dogsitter GmbH. Mardo hatte eine Idee. Womöglich konnte er sich die Mühe sparen, sämtliche Tierheime abzuklappern oder ziellos durch die Parks zu streifen.



Mardo hatte einen alten Reisigbesen in der Hand und fegte ein wenig in seinem Büro. Das Fegen diente in erster Linie seiner Entspannung, weniger der Bodenpflege oder der optischen Aufwertung seiner Rumpelkammer. Ein Mann und sein Besen. Er erinnerte sich, wie er den Besen bei einem Trödler in Moabit erstanden hatte, dann klingelte endlich das Telefon.
"Hier Max Lotze. Werde das Geld jetzt deponieren."
"Verstanden." Mardo legte auf.
Wenig später kauerte er hinter der Hecke eines grauen Wohnwürfels im Innenhof zwischen Swinemünder und Graunstrasse. Zunächst hastete Max Lotze in einem dunkelblauen Mantel vorüber, er legte ein Päckchen in die Mülltonne an die Rückseite der St. Afra-Kirche und verschwand wieder. Fünfzehn Minuten später trat ein fremder Mann in den Hof und blickte sich um. Mardo duckte sich, so tief er konnte, und hielt die Luft an. Dann spähte er hervor. Er sah den Mann gerade noch im hinteren Teil des Hofes verschwinden. Er trug eine tiefhängende Jeans im "Heavy-used-Look mit hippen Crincle-Effekten" (Quelle-Katalog, S. 509), dazu eine rote Daunenjacke. Mardo verließ die Deckung und folgte dem Erpresser. Doch als er die Graunstrasse erreicht hatte, war der Mann verschwunden. Mardo rannte in Richtung Gleimtunnel, aber es war zu spät. Er hatte es bei der Geldübergabe einfach vermasselt.



Eine Stunde später saß Mardo saß am Küchentisch und schnitt eine Salatgurke in hauchdünne Scheiben, während Mary am Herd stand, in einem Topf herum rührte und gleichzeitig konzentriert in ein Kochbuch blickte. Er sah ihr gerne zu. Ihr Anblick hatte etwas Beruhigendes, so als blickte man in eine Lavalampe. Und Ruhe brauchte er in diesem Augenblick. Er lebte seit zwei Jahren mit seiner Freundin zusammen. Mary hieß mit vollem Namen Maritima Eternity Wurstwasser, aber sie mochte ihren Namen nicht. Vielleicht würde eines Tages einfach ‚Mary Mardo‘ in ihrem Personalausweis stehen, mehr nicht, das würde reichen. Sie arbeitete als Verkäuferin im Gesundbrunnencenter und studierte Englisch und Deutsch auf Lehramt an der Humboldt-Universität. Mardo schaute sie immer noch an. Erst als die kalte Messerklinge knapp an seinen Fingerkuppen entlang schnitt, widmete er seine Aufmerksamkeit wieder der Gurke. Nach dem Essen würde er ihr alles in Ruhe erklären. Auf dem Fensterbrett stand immer noch der Blumentopf, in den er einen Orangenkern gepflanzt hat. Inzwischen lugte ein zarter Keimling aus der dunklen Erde hervor.



In der Nacht bekam er seine zweite Chance. Lotzes wohnten in Schlachtensee, in der Terrassenstraße, einer noblen und zu dieser Uhrzeit unbelebten Wohngegend. Sie saßen etwa fünfzig Meter von Lotzes Villa entfernt in Marys altem Toyota. Mary hatte nichts gegen einen kleinen konspirativen Einsatz, schließlich mussten Verbrechen aufgedeckt und Rechnungen bezahlt werden. Sie hatte nach dem Abendessen einen starken Kaffee gekocht, dann waren sie losgefahren. Nun saßen sie zusammen im dunklen Wagen und warteten schweigend. Gegen zwei Uhr nachts hielt ein silberfarbener Kombi vor dem Haus der Lotzes, ein Rauhaardackel wurde auf die Straße gehoben und an einem Baum angeleint.
Der Kombi rollte am S-Bahn-Damm entlang zur Argentinischen Allee und bog dann links ab. Mary und Mardo folgten ihm in einigem Abstand. Sie waren verblüfft, welchen Weg der Kombi nahm, denn er führte sie direkt zurück zum Brunnenviertel. Clayallee, Hohenzollerndamm, die Strecke waren sie gerade erst selbst gefahren. Der Kombi hielt an der Brunnenstraße, eine Frau stieg aus. Mary fuhr weiter bis zur Rügener Straße, bog nach links ein und fuhr dann wieder links. Hier stiegen sie aus. Mardo wollte direkt zur Ramlerstraße laufen, Mary sollte zur Swinemünder Straße weitergehen und die Augen aufhalten.
Als Mardo von der Putbusser Straße in die Ramlerstraße einbog, sah er die Frau. Von dem silbernen Kombi keine Spur. Er folgte ihr, als sie in die Swindemünder Straße einbog. Sie kamen am Eingang zur Diesterweg-Oberschule vorbei, ein orangefarbener Bunker, der bei seinem Bau in den siebziger Jahren offenbar Zukunft und Moderne symbolisieren sollte, aber heute mit seinen schießschartenförmigen Fenstern nur verstörend und fremd wirkte. Kahles Gebüsch und knubbelige bunte Altglascontainer, zur Linken fleischfarbene Hochhäuser, die gar nicht zum fahlen Nachtlicht der winterlichen Straße passten. Er sah Mary, die ihm entgegen kam. Nur kein Risiko. Er rannte auf die fremde Frau zu und packte sie am Oberarm. Jetzt musste er den Überraschungsmoment nutzen, das hatte er in einem Ratgeber gelesen.
"Wo sind die tausend Euro?"
"Lassen Sie mich in Ruhe oder ich schreie um Hilfe."
"Wir haben Sie in der Terrassenstraße beobachtet und alles fotografiert", schwindelte Mardo mutig.
Mary stand inzwischen bei ihnen, die Erpresserin wusste, dass sie verloren hatte.



Wenig später saßen sie zu dritt im Wohnzimmer von Frau Olschowski. Das zerschlissene Sofa war voller Brandflecken, leere Jägermeister-Fläschchen lagen über den Tisch verstreut. Sie hatte Mary und Mardo alles gestanden. In Geldschwierigkeiten war sie bereits seit langem, die Schulden waren ihr einfach über den Kopf gewachsen. Als sie bei Dogsitter anfing, war sie auf die Idee gekommen, die reichen Hundebesitzer zu erpressen. Es war die siebte Entführung gewesen, insgesamt hatte sie bereits sieben tausend Euro erpresst. Mardo ließ sich das Geld zeigen. Es war in eine Plastiktüte gewickelt und tatsächlich noch komplett vorhanden. Offenbar wollte Frau Olschowski alle Schulden auf einmal begleichen – oder eine lange Reise machen. Er blickte Mary lange in die Augen, sie nickte.
"Frau Olschowski, wenn Sie mir versprechen, so etwas in Zukunft nicht mehr zu machen und mir das Geld geben, verzichte ich auf eine Anzeige. Das Geld gebe ich natürlich zurück." Nervös fuhr sie sich durch das strähnige kastanienbraune Haar, das ein breiter hellgrauer Scheitel zierte. Dann nickte sie auch.



Und so war es dann auch gekommen. Finke und Lotze bekamen ihr Geld wieder, Mardo erhielt von beiden ein großzügiges Honorar und der WWF durfte sich über eine milde Spende der wohlhabenden Berliner Bürgerschaft freuen. Zugleich hatte der Detektiv aus dem Brunnenviertel einen wertvollen Beitrag zur Entlastung von Polizei und Justiz geleistet.



Montag, 12. Januar 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 1


Das Telefonklingeln riss ihn aus tiefem Schlaf, obwohl es bereits früher Nachmittag war. Die ganze Nacht hatte er einen Mann, den seine Frau des Ehebruchs verdächtigte, auf seiner Tour durch diverse Berliner Clubs verfolgt. Aber es waren genau diese wirklichen und vermeintlichen Ehebrecher, die seine kleine Existenz als Privatdetektiv jeden Monat wie durch ein Wunder retteten. Doch diesmal lag der Fall anders. Eine Stunde später stand er vor einem dunkelroten Backsteinbau in der Swinemünder Straße, der mit seinen breiten Schornsteinen wie ein Ozeandampfer aussah.
Im dritten Stock öffnete ihm Viktor Schevtschenko eine rotverschmierte Tür. Mardo schätzte das Alter des kleinen Mannes auf Ende Fünfzig. Tiefe Furchen durchschnitten sein Gesicht von den Nasenflügeln über die Mundwinkel bis zum Kinn, sein graues Haar war kurz geschnitten. Er begrüßte Mardo und führte ihn ins Wohnzimmer.
"Setzen Sie sich doch."
Mardo versank in einem tiefem Polstersessel und schaute Schevtschenko über seine Kniescheiben hinweg an. "Was kann ich für Sie tun?"
"Ich werde bedroht. Ein russischer Landsmann erpresst mich. Falls ich nicht zahle, tötet er mich." Schevtschenkos Aussprache war voller harter Konsonanten und Zischlaute.
"Darf ich fragen, was Sie erpressbar macht?"
"Bitte? Ich verstehe nicht. Gut deutsch kann ich schlecht." Schevtschenko entblößte eine unregelmäßige Reihe elfenbeinfarbener Zähne.
"Was hat er gegen Sie in der Hand?" Mardo spürte, wie der Schmerz leise in seine unnatürlich gekrümmten Rückenwirbel kroch.
"Das ist nicht wichtig. Ich brauche nur ihren Schutz. Heute treffe ich ihn."
"Dann kann ich Ihnen nicht helfen." Mardo versuchte, sich aus dem Sessel zu erheben, scheiterte aber kläglich.
"Können Sie schweigen?" fragte Schevtschenko.
"Das gehört zu meinem Beruf."
"Gut, ich erzähle. Dieser Mann heißt Kropotkin. Wir waren zusammen in russischer Armee, Einsatz in Tschetschenien. Als unsere Einheit das Haus eines Clan-Chefs gestürmt hat, haben wir ein paar Goldbarren gefunden. Wir haben beschlossen, sie für uns zu behalten. Um dieses Gold geht es."
"Wo sind die Barren jetzt?"
"Ich habe sie Stück für Stück umgerubelt. Bei den heutigen Goldpreisen war es ein glänzendes Geschäft. Das Geld liegt in einem Schließfach meiner Bank."
"Sie haben also Ihre Kameraden um ihren Anteil betrogen, sehe ich das richtig?"
"Ich habe niemand betrogen", Schevtschenko war wie eine Sprungfeder aus seinem Sessel hochgeschnellt. Das musste die jahrelange Übung sein. "Kropotkin war in vielen Dingen nicht ehrlich zu mir. Das ist mein gerechter Anteil an der Kriegsbeute. Das alles ist lange her, jetzt kommt dieser Mann aus Russland hierher."
Er ging zu einem Tischchen hinüber. "Hören Sie!" Er spielte das Band seines Anrufbeantworters ab, Mardo verstand kein Wort. "Du wirst zahlen, Freundchen, oder du wirst deine Schneidezähne vom Asphalt aufsammeln," übersetzte Schevtschenko. "Ich weiß, wo du wohnst. Ich kenne deine Frau und deinen Stiefsohn."
Er bewegte sich wie ein UFA-Star aus der Phase des expressionistischen Stummfilms, als er weiter sprach. "Und unsere Tür hat er mit Blut beschmiert. In einer Stunde soll ich ihn treffen und ihm den Schließfachschlüssel geben." Schevtschenko holte einen Schlüssel hervor, der an einer Kette um seinen Hals hing.
Mardo hievte sich mühsam in eine senkrechte Position. "Ich werde im Hintergrund bleiben, wenn Sie ihn treffen."
Als er endlich aufgestanden war, um sich zu verabschieden, sah er durch die Milchglasscheibe des Wohnzimmers einen Schatten, der schnell verschwand.


Kurze Zeit darauf saß Mardo in einem kleinen Lokal in der Demminer Straße. "Die kleine Geldwäscherei" war ein Waschsalon, in dem zusätzlich klassische Berliner Arbeiterkost verabreicht wurde. Der Duft einer unlängst verspeisten Boulette mit Bratkartoffeln schwebte im Raum wie ein guter Geist. Seit seiner Geburt im Jahr 1981 wohnte Jan Mardo im Brunnenviertel, hier kannte er die Straßen und Gesichter. Bauern, Bomben und Bagger hatten in den vergangenen zweihundert Jahren jeden Quadratzentimeter des Viertels aufgewühlt und umgepflügt. Diese Erde wollte einfach nicht zur Ruhe kommen. Aber für Mardo zählte nur die Gegenwart, die Vergangenheit erschien ihm so klein wie in einem Autorückspiegel.
Schevtschenko saß ein paar Tische weiter am Fenster und hatte den Kaffee noch nicht angerührt, den er bestellt hatte. Wenig später betrat ein Mann das Lokal. Er war groß, hager und hatte Augenbrauen wie Hundebürsten. Wie Mardo es erwartet hatte, setzte sich der Mann zu Schevtschenko und sprach mit ihm. Das russische Gemurmel klang für Mardo wie ein Knurren.
Als Kropotkin wieder aufstand und das Lokal verließ, folgte Mardo ihm. Der Erpresser ging zur Brunnenstraße und bog dann nach Norden ab. Die beissende Kälte hatte alles Leben von der Straße vertrieben, es waren kaum Menschen unterwegs, so dass Mardo Abstand halten musste. Kropotkin lief über die Brücke am Gesundbrunnencenter vorbei zur Badstraße, unter ihnen kreischte die S-Bahn. Von einer Plakatwand grinste Oliver Pocher, die fleischgewordene Leugnung von Qualität im deutschen Fernsehen. Kropotkin blickte sich um, Mardo blieb an einer Würstchenbude stehen und betrachtete sich die Speisekarte. Kurz drauf verschwand der Russe in einem Hotel.
Mardo spazierte zurück zur "Geldwäscherei", unterwegs rief er die Rezeption des Hotels an und verlangte, Herrn Kropotkin zu sprechen. Man wollte ihn sofort durchstellen, Mardo drückte die Aus-Taste. Der Russe war tatsächlich unter seinem eigenen Namen abgestiegen, er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.
Schevtschenko wartete vor dem Lokal auf ihn.
"Er hat gedroht, mich zu töten. Was soll ich machen? Ich will nicht zur Polizei gehen. Ich kann nicht einfach verreisen, er wird meine Familie angreifen. Was soll ich tun?"
"Glauben Sie, Kropotkin macht ernst?" fragte Mardo.
"Vorhin hat mir Thomas erzählt, Kropotkin hätte ihn vor dem Haus bedroht."
"Wer ist Thomas?"
"Ich habe in Deutschland noch einmal geheiratet. Meine Frau heißt Mandy, sie hat einen Sohn aus erster Ehe, der bei uns wohnt. Thomas ist jetzt achtzehn Jahre alt."
"Gehen Sie erst einmal nach Hause. Lassen Sie uns später noch einmal telefonieren."


Später am Abend saß Mardo in seiner Küche und dachte nach. Auf dem Fensterbrett stand ein einsamer Blumentopf, den er nachdenklich anschaute. Er träumte von einem eigenen Orangenbaum, von dem er eines Tages eine Frucht pflücken wollte. Im Herbst hatte er darum einen Orangenkern in einen Blumentopf mit Erde gedrückt und begossen. Bisher war jedoch noch nichts passiert. Mardo griff zum Telefon.
"Herr Schevtschenko? Ich habe nachgedacht. Kropotkin weiß nicht, zu welchem Kurs Sie das Gold verkauft haben. Warum gehen Sie nicht morgen früh zu Ihrer Bank, deponieren die Hälfte des Geldes in einem anderen Schließfach und geben ihm den Schlüssel?"
Schevtschenko atmete schwer. "Ich will dieses Schwein nicht mehr sehen. Wenn ich keine Familie hätte, würde ich ihn mit meiner alten Makarow erschießen."
"Soll ich die Übergabe für Sie machen?"
"Ich überlege es mir." Schevtschenko legte auf.
Fünfzehn Minuten später klingelte Mardos Handy, es war Schevtschenko.
"Kropotkin hat angerufen. Er ist mit einer Übergabe einverstanden, aber er will Thomas als Boten. Ich soll den Jungen schicken, damit er sicher sein kann, dass ich keine Tricks mache. Morgen mittag um 13 Uhr soll die Übergabe im Humboldthain stattfinden. Aber ich werde das Leben des Jungen nicht auch noch riskieren. Ich werde die Wohnung nicht mehr verlassen. Soll die Ratte doch kommen!"
"Gut. Und ich werde an Kropotkin dran bleiben. Sicher ruft er wieder an, wenn er merkt, dass die Übergabe geplatzt ist."
In dieser Nacht wurde es in der Stadt nicht dunkel, fahlgelb wurde das Licht der Straßenlaternen und Reklametafeln von einer geschlossenen Wolkendecke zurückgeworfen.


Am nächsten Tag war Mardo bereits am Morgen vor Kropotkins Hotel. Er wollte sicher sein, dass er den Erpresser immer im Auge hatte. Er saß in einer Imbissbude gegenüber des Eingangs und trank bereits seine dritte Tasse Tee, als Kropotkin auf die Straße trat. In seiner rechten Hand trug er einen nutellabraunen Koffer. Mardo verabschiedete sich und folgte dem Russen. Kropotkin ging zum S-Bahnhof und stieg wenig später in einen Zug. Mardo betrat denselben Waggon und setzte sich, Kropotkin saß nur wenige Meter von ihm entfernt. Sein Gesicht war hinter einer Ausgabe von "Wostok" verborgen, einer russischen Zeitung, die in Berlin erschien. Mardo sah lange in seine Richtung, auf die Zeitung, die Hände, die schwarzglänzenden Lederschuhe. Plötzlich nahm der Epresser die Zeitung herunter und blickte Mardo scharf an. Mardo sah schnell in eine andere Richtung und studierte eine Weile den Fahrplan, der an der Decke des Waggons klebte. Am Bahnhof Neukölln verließ Kropotkin den Zug und stieg in die S-Bahn zum Flughafen Schönefeld. Was wollte er hier? In zwei Stunden sollte die Übergabe des Schließfachschlüssels im Humboldthain stattfinden.
Die automatische Tür des Flughafengebäudes öffnete sich vor Mardo, er sah Kropotkin, wie er bewegungslos auf einer Rolltreppe zum Abflug-Terminal hinaufschwebte. Der Russe stellte sich am Schalter von Ryanair an, Mardo stand an den riesigen Scheiben der Flughalle und sah in den trostlosen Tag hinaus. Berlin konnte im Winter so hässlich sein, dass manche Bewohner bis tief in den Sommer hinein traumatisiert waren. Mardo liebte seine Stadt nicht, er hatte vielmehr den nüchternen Blick eines langjährigen Ehegatten.
Er schaute wieder zu Kropotkin, der nun am Schalter seinen Ausweis vorzeigte. Wenig später hatte er die Sicherheitskontrolle passiert und war aus seinem Blickfeld verschwunden. Der Monitor über dem Schalter verriet ihm, dass Kropotkin nach Hahn im Hunsrück wollte. Das lag über sechshundert Kilometer von Berlin entfernt. Was wollte er dort? Würde er auch einen Vertreter zur Übergabe schicken? Oder sollte das nur eine Finte sein? Hatte er Mardo bemerkt und wollte ihn abschütteln?
Der Detektiv ging zu einem Angestellten am Eingang zur Sicherheitskontrolle hinüber, zückte seinen Ausweis und fragte: "Kann ein Fluggast eigentlich durch einen anderen Ausgang die Abflughalle wieder verlassen?"
Der dunkelblau uniformierte Mann betrachtete das eingeschweißte Stück Karton, das Mardo als Privatdetektiv auswies, grinste und sagte nur: "Verschwinden Sie!"


Als er gegen zwölf Uhr vor Schevtschenkos Haus erschien, war alles voller Lärm und Blaulicht. Er holte sein Handy hervor und wählte die Nummer seines Klienten, aber niemand hob ab. Mardo war ratlos und ging in sein Büro, ein kleines Ladenlokal in der Ramlerstraße, das er gemeinsam mit einer Kulturinitiative angemietet hatte. Geldmangel führt bisweilen zu den seltsamsten Koalitionen. Dreizehn Uhr. Nichts passierte. Vierzehn, fünfzehn Uhr. Er trommelte nervös auf der Tischplatte. Was war geschehen? Hatte Kropotkin seine Drohung wahr gemacht? Hatte Schevtschenko auf Kropotkin geschossen? Oder hatten der Rettungswagen und das Polizeifahrzeug gar nichts mit seinem Fall zu tun? Vielleicht war Schevtschenko auch einfach nur unterwegs. War er auf der Bank gewesen? Oder hatte er doch die Flucht ergriffen, um seine Familie aus der Schusslinie zu bringen? Mardo tappte völlig im Dunkeln.
Um sechzehn Uhr klingelte sein Handy. Es war die Kriminalpolizei, genauer gesagt das LKA 1. Schevtschenko lebte nicht mehr, man hatte ihn erschossen.
Mardo hatte im wöchentlich erscheinenden Brunnenecho eine Annonce geschaltet: "Detektei Mardo & Co. Bietet Ihnen Dienstleistungen aller Art im Bereich Informationsbeschaffung und Personenschutz." Er war der einzige Mitarbeiter seiner Detektei, deren Gründung er einem Gespräch zum Thema Ich-AG mit seiner "Fall-Managerin" im "Job-Center" vor einigen Jahren verdankte. Hätte er gewusst, dass ihm diese Entscheidung eines Tages den Besuch der Kriminalpolizei bescheren würde, hätte er doch lieber ein Nagel-Studio eröffnet.
"Sind Sie Jan Mardo?"
"Ja", antwortete Mardo und bot den beiden Männern mit einer knappen Geste Stühle an.
"Leber ist mein Name, das ist der Kollege Schöller." Seriös aussehende Scheckkarten wurden kurz hochgehalten, die Dienstausweise der Kriminalbeamten. "Wir haben Ihre Visitenkarte in der Brieftasche von Herrn Schevtschenko, wohnhaft Swindemünder Straße, gefunden. Herr Schevtschenko hat in jüngster Zeit mehrfach mit ihnen telefoniert, das haben wir überprüft. Was können Sie uns zu dem Fall sagen?" Lebers Geheimratsecken zogen sich bis zum Hinterkopf, seine Stirn hatte er in beeindruckende Falten gelegt.
Mardo sagte viel. Er sagte alles, was er wusste.
Leber machte sich Notizen. "Wir haben bei Schevtschenko keinen Schlüssel und keine Kette gefunden. Außerdem scheint Thomas Weißmüller verschwunden zu sein, der Stiefsohn des Ermordeten. Er ist bis jetzt nicht zu Hause erschienen und in der Diesterweg-Oberschule ist er heute auch nicht aufgetaucht. Jedenfalls werden wir gleich mal eine Fahndung nach diesem Kropotkin einleiten und die Kollegen in Rheinland-Pfalz informieren."
Das Telefon des Kommissars klingelte. Er brummte eine Weile in das winzige Gerät, das in seiner fleischigen Hand fast verschwande. Offensichtlich hörte er einen langen Geschichte zu. Dann drückte er die Aus-Taste und sah Mardo ernst an.
"Ich denke, der Fall ist gelöst."
"Was ist denn passiert?"
"Die Bahnpolizei hat Thomas Weißmüller in Hannover aus dem ICE gefischt. Er wollte auf der Fahrt ein Fleischkäsebrötchen und eine Cola mit einem Fünfhundert-Euro-Schein bezahlen und machte einen ziemlich nervösen Eindruck. Man hat vierzigtausend Euro in bar bei ihm gefunden. Ziemlich ungewöhnlich für einen Schüler."


Am darauffolgenden Tag erschien Mardo in der Keithstraße, dem Hauptquartier des LKA 1, um sein Vernehmungsprotokoll zu unterzeichnen. Der Kommissar machte einen gut gelaunten Eindruck auf ihn, Leber hatte diesen Fall schnell zu den Akten legen können und war in Plauderlaune.
"Setzen Sie sich, Herr Mardo. Weißmüller hat inzwischen alles gestanden und macht gerade einen kleinen Ausflug nach Moabit."
"War er der Mörder?"
"Ja. Er sagte, er hätte seinen Stiefvater und Sie belauscht. Als Kropotkin ihn bedrohte, bot er ihm eiskalt ein Geschäft an. Kropotkin solle einfach ihn für die Übergabe vorschlagen, dann könnten sie das Geld teilen. Kropotkin hat daraufhin die Stadt verlassen, um sich ein Alibi zu verschaffen. Der Verdacht wäre natürlich auf ihn gefallen, denn für seine Erpressungsversuche gab es genug Beweise. Er hätte die Polizei eine Weile mit seiner Flucht beschäftigt, aber man hätte nichts gegen ihn in der Hand gehabt. Weißmüller sollte das Geld abholen, in Koblenz wollten sie sich treffen. Alle würden Kropotkin suchen, er selbst würde als vermeintliches Opfer eines Kapitalverbrechens lediglich als vermisst gelten. Da er volljährig ist, wird einer Vermisstenanzeige gewöhnlich erst nach ein paar Tagen nachgegangen."
"Aber dann kam alles anders, wie ich annehme."
"Richtig." Der Kommissar nickte. "Weißmüller hat seinen Vater mit dessen alter Dienstwaffe erschossen, hat den Schlüssel genommen und das Bankschließfach geplündert. Er hat nie vorgehabt, mit Kropotkin zu teilen und war gerade auf dem Weg nach Amsterdam, als man ihn aufgriff."
"Warum hat er dann seinen Stiefvater erschossen? Der Plan klingt doch sehr gut."
"Ganz einfach: Schevtschenko liebte Thomas Weißmüller wie einen eigenen Sohn und wollte ihn nicht gefährden. Damit hat er den Plan ruiniert. Weißmüller wusste, wo Schevtschenko seine Waffe versteckt hatte und erschoss ihn, um an den Schlüssel zu kommen. Der Rest ist bekannt."
Als Mardo wieder in seinem Büro saß, schaute er sich lange die beiden Fünfzig-Euro-Scheine in seiner Brieftasche an, die er von Schevtschenko als Vorschuss auf sein Honorar bekommen hatte. Viel hatte er nicht dafür tun müssen, aber eines hatte er gelernt: Der Krieg ist überall, und er endet nie.

Donnerstag, 8. Januar 2009

Das ist dein Leben, Schnalle


"Lauf, Schnalle!" brüllt Trainer Hacke über den Platz. Schnalle rennt, es ist kalt und jeder Atemzug sticht in der Lunge. Der Ball ist längst wieder fort. Schnalle: ein Leben in der C-Jugend. Warum spielt man überhaupt an so einem lausigen, regnerischen und kalten Sonntag Fußball? Aber in der D- und in der E-Jugend ist es schließlich genauso gewesen. Und auch heute gibt es nichts zu gewinnen.
"Mach de Oogen uff, Schnalle!"
Später wird er nach Hause kommen, seine Mutter wird ihm das Essen aufwärmen und über das schmutzige Trikot schimpfen. Vater, wie immer mit Bierflasche, fragt wieder, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden: "Und? Schon wieder verloren?" Dann das heiße Bad. Er würde noch ein bißchen Musik hören, Heavy Metal – aber auf Zimmerlautstärke.
"Schnalle! Hintermann!"
Und wenn es dunkel wird im Brunnenviertel, liest er vielleicht noch die neue Bravo oder sieht ein bißchen fern. Morgen die ersten zwei Stunden Mathe. Mensch, Schnalle, und in der B-Jugend wird es genauso sein. Bis du eines Tages mit der Bierflasche am Spielfeldrand stehst und den Anderen zuschaust. Das Leben ist zu kurz, um sich darüber zu ärgern.
"Schnalle! Geh druff!"

Angela Merkel - Ein Gedicht


Aus deiner Mitte dringt ein Strahlen
Siegreicher Durchschnitt, siegreiche Wahlen
Das Mittelmaß ist jene Kraft
Die alles erst erschaffen hat

Drum kommt, Ihr Leute, setzt Euch her
Das Edle sieget nimmermehr
Lobt mir das Öde und Gemeine
Und auch noch diese Schüttelreime

Dienstag, 6. Januar 2009

Der Kiezschreiber ist da!

Kurt Tucholsky hat einmal geschrieben: „Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Die Vorteile stehen im Baedecker.“ So einfach möchte ich es mir in diesem Weblog nicht machen. Denn jetzt hat das Brunnenviertel einen Kiezschreiber, der das Leben zwischen Brunnenstraße und Gleimtunnel, zwischen Swinemünder Brücke und Vinetaplatz einfängt, seine Bewohner porträtiert und ihre Geschichten aufschreibt, der regelmäßig Reportagen und Erzählungen aus dem Kiez veröffentlichen wird.
Ich darf mich kurz vorstellen: Mein Name ist Matthias Eberling, ich bin 42 Jahre alt und lebe seit 1991 in Berlin. Eigentlich stamme ich, wie so viele in dieser Stadt, aus der Provinz. Geboren und aufgewachsen bin ich in Ingelheim am Rhein, in der Nähe von Mainz. Doch schon meine erste Klassenfahrt 1981 führte mich nach Berlin, genauer gesagt in den Wedding, wo in der Koloniestraße noch immer die damalige Jugendherberge existiert. Danach bin ich immer wieder gekommen und habe mir als Flaneur ganz allmählich ein Bild von der Stadt und ihren Menschen machen können.
Das Flanieren erfordert Aufmerksamkeit und Langsamkeit, man braucht Offenheit und Muße, um einen Ort betrachten und begreifen zu können. Man hört kleine Gesprächsfetzen und Musik, Verkehrslärm und Geschrei, man riecht das Mittagessen, das gerade gekocht wird, und die Abgase, Parfüm und Hundekot, den Zigarrengeruch alter Männer, man sieht, wie das Räderwerk der Stadt im Kleinen funktioniert: die Lieferwagen vor den Geschäften und die Kinder auf dem Schulweg. Diese Kleinigkeiten entgehen dem eiligen Autofahrer völlig. Ziellos laufend lässt sich die Stadt jedoch sehr einfach begreifen.
Berlin macht es einem anfangs nicht leicht, vor allem im trüben Winter nicht. Hier wird niemand mit offenen Armen empfangen, die Stadt ist Neuankömmlingen gegenüber schon immer gleichgültig gewesen. An die Geschäftigkeit, Spottlust und eilige Oberflächlichkeit ihrer Bewohner musste ich mich erst gewöhnen. Es dauert eine Weile, bis man die dicke Haut Berlins durchstoßen hat und zum Kern, „ans Einjemachte“ sozusagen, vordringt, zur proletarischen Behaglichkeit und zur tiefen Lebenslust der Menschen, zu ihrem derben Humor und ihrer zähen Beharrlichkeit. Wenn man sich aber in Berlin eingelebt hat, wenn man sich die Elefantenhaut der Metropole zu eigen gemacht hat und sich in ihr wohlfühlt, kann man diese Stadt nie wieder verlassen.
Nach Abschluss meiner Studien und der Promotion 1996 an der Freien Universität Berlin habe ich mich als Wissenschaftler am Deutschen Institut für Urbanistik und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in zahlreichen Forschungsprojekten mit Berlin befasst: Rhythmus der Stadt, Folgen der globalisierten Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Vereinbarkeit von Beruf und Familie waren meine Themen. 2005 habe ich mich als Schriftsteller selbständig gemacht, mein letztes Buch war eine Gandhi-Biographie, die bei Suhrkamp erschienen ist (als Hörbuch bei Hoffmann & Campe). Mein nächstes Buch ist ein Berlin-Krimi, der Ende März 2009 bei Emons erscheinen wird: „Ich träume deinen Tod.“ Der nächste Kriminalroman soll im Brunnenviertel spielen, schließlich bietet der Kiez genügend Material für einen Krimiautor: eine facettenreiche historische Basis (Arbeitermilieu, Auf- und Niedergang der Industrie, Berliner Mauer, Kahlschlagsanierung), gute Locations (Swinemünder Brücke, Gleimtunnel, Flakbunker), beste Zentrumslage (inkl. eigenem ICE-Bahnhof) und viele interessante Menschen.
„Ich freue mich, daß es diesem Unglücksnest endlich gelingt, Weltstadt zu werden,“ hatte einst Friedrich Engels über Berlin geschrieben. Das gilt auch für die Gegenwart – und das Brunnenviertel wird mitten drin sein.

Aktueller Kommentar

Ein frohes neues Jahr! Waren Sie auch schon auf Ihrer Bank? Ich war gleich am Montagmorgen dort – und habe Geld eingezahlt. Das mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, aber es ist in Zeiten der Finanzkrise nur folgerichtig. Die Banken brauchen Geld, viel Geld, denn sie haben ihr ganzes Geld verzockt. Und jeder Spielsüchtige braucht nun einmal Nachschub. Was sollten Banker denn sonst den ganzen Tag machen, wenn nicht am internationalen Kapitalmarkt zocken dürfen? Dann wären doch plötzlich viele von ihnen überflüssig. Das hat natürlich auch Vati Staat erkannt und versorgt die Spielsüchtigen daher großzügig mit steuer- und schuldenfinanzierten Krediten. Der Staat hat es als Dealer aber auch einfach, denn er kann das Geld einfach drucken, so wie die Firma, die das Spielgeld für Monopoly herstellt. Aber auch wir können helfen. Bringen Sie Ihrer Bank Geld! Schauen Sie doch zu Hause unter der Matratze nochmal genau nach, womöglich findet sich das eine oder andere Scheinchen, mit dem Sie ein Lächeln auf das Gesicht eines jeden Bankangestellten zaubern können. Oder wollen Sie, dass die Ackermänner dieser Welt sich ihre Luxuslimousinen, bombastischen Villen und brasilianischen Prostituierten nicht mehr leisten können? Sollen diese braven Banker etwa so leben müssen wie Sie und ich? Na, also. Mein Motto: Support your local manager.

Auf der Durchreise

Es regnete seit Stunden und er hatte nicht den Eindruck, als würde es jemals wieder aufhören. Die Scheinwerfer seines Wagens schnitten nur kleine Stücke aus der Finsternis und er reagierte viel zu spät auf das Kaninchen. Er konnte dem Tier noch ausweichen, aber er geriet mit einem Rad in den Straßengraben und so war die Fahrt in dieser Nacht vorbei.

Nach einigen Minuten, die er am Straßenrand entlang gegangen war, nahm er ein winziges flackerndes Licht wahr. Rechts der Straße, etwa hundert Meter entfernt, mußte ein Haus sein. Er bog in einen schmalen Feldweg ein und bald stand er vor einem großen flachen Gebäude. Da er völlig durchnäßt war, klingelte er ohne nachzudenken. Eine ältere Frau in einem schmucklosen Kittel öffnete ihm.

„Was wollen Sie?“

„Guten Abend. Ich hatte eine Autopanne und habe ihr Licht gesehen. Können Sie mir helfen?“

Ein schmales Lächeln war in ihren Mundwinkeln zu erkennen. „Aber natürlich. Kommen Sie hinein.“

Er tropfte vor Nässe und fuhr sich durch das schwarze Haar. Das Wasser lief seinen Rücken hinunter. „Gibt es irgendwo eine Ortschaft und eine Autowerkstatt?“

„Um diese Uhrzeit werden Sie wohl nicht mehr weiterkommen, selbst wenn Sie noch die Werkstatt anrufen würden. Ich gebe Ihnen erst mal ein Handtuch.“

Sie verschwand aus dem Hausflur. Er sah sich um. Durch eine andere Tür, die offen stand, sah er einen großen Schreibtisch, auf dem sich Aktenstapel türmten. Im Zentrum eines Trichters aus verschiedenfarbigen Aktendeckeln stand der graue Monitor eines Computers.

Sie kam mit einem hellblauen Handtuch zurück und reichte es ihm mit einem Lächeln. „Wollen Sie einen Tee? Ich habe gerade welchen gekocht. Kommen Sie!“

Er folgte ihr, während er sich den Kopf trocken rieb, in den angrenzenden Raum, aus dem sie gekommen war. Es überraschte ihn, daß er in einen großen schmucklosen Raum kam, in dem einigen Gefängniszellen mit offenen Gittern waren. Er schaute die Frau überrascht an.

„Dies ist das Haus des Protektors. Ich bin seine Frau“, erklärte sie ihm.

„Protektor? Was ist das?“ fragte er.

„Sie wissen nicht, was ein Protektor ist?“ fragte sie zurück und ihr Lächeln verschwand.

„Ehrlich gesagt nicht.“

„Die Protektoren sind für die Sicherheit in diesen abgeschiedenen Gegenden zuständig. Sie müssen von weit herkommen, wenn Sie das nicht wissen. Die Protektoren sind hier so etwas wie die Polizei und das Gericht. Aber zum Glück passiert nicht allzu viel.“ Sie reichte ihm eine Tasse dampfenden Tees.

Er trank behutsam einen Schluck und blickte auf die leeren Zellen. „Dann brauchen Sie diesen Raum ja nicht allzu oft?“

„Richtig. Aber gerade heute hatte mein Mann einen Landstreicher aufgegriffen, der sich in unserer Gegend herum trieb.“

„Wo ist er denn jetzt?“

Ihr Blick verfinsterte sich und sie sah an ihm vorbei, als sie antwortete: „Er ist geflüchtet. Ich hatte gerade die Zellentür geöffnet, als ich ihm das Abendessen hineinbringen wollte, da ist er an mir vorbei gestürmt und aus dem Haus gerannt. Mein Mann ist jetzt auf der Suche nach ihm, deswegen bin ich alleine hier.“

„Na, dann wünsche ich Ihrem Mann viel Glück bei der Verfolgung. Meinen Sie, daß ich hier übernachten kann?“ Der Tee tat ihm wirklich gut.

„Das dürfte kein Problem sein. Sie können in einer der Zellen schlafen.“ Sie überlegte und lächelte dann wieder auf ihre schüchterne und unauffällige Weise. „Die Zellentür lasse ich natürlich offen.“

Er machte es sich in einer der Zellen so bequem, wie es ging. Die Pritsche war gepolstert und mit Kunststoff überzogen. Das nasse Hemd und die schmutzige Hose hatte er ausgezogen, eine graue Decke wärmte ihn und so schlief er bald ein. Der Morgen dämmerte schon, als ihn der Strahl einer Taschenlampe weckte.

„Wen haben wir denn da?“

Er konnte nichts erkennen, aber er hörte die Stimme der Frau, die antwortete: „Dieser Mann ist heute hier hergekommen. Ich habe ihn hier übernachten lassen.“

„Das trifft sich gut. Ich habe den Landstreicher nämlich nicht mehr gefunden. Die Meldung an die Zentrale ist aber gestern schon raus gegangen.“

„Meinst du, wir bekommen deswegen Ärger?“

„Wahrscheinlich. Wir müssen uns was einfallen lassen.“

„Wenn es nur keinen Ärger gibt. Wir haben so ein ruhiges Leben.“

„Sieh ihn dir nur an. Er hat die Größe, das Alter, die Haarfarbe und die Statur des Landstreichers. Weißt du was? Wir melden ihn an die Zentrale.“

„Meinst du, das geht gut?“

„Natürlich. Wir werden den Gefangenen morgen abholen lassen. Ich denke mir noch ein paar Geschichten aus, die ich in den Bericht schreibe. Dann bekommen wir eine Extra-Gratifikation für seine Ergreifung. Hast du seine Papiere?“

„Die waren in seiner Hose, die er mir zum Trocknen gegeben hat.“

„Die werden wir vernichten. Die Papiere des Landstreichers haben wir ja noch. Sein Auto habe ich gesehen, darum wird sich Paul kümmern.“

„Du bist einfach großartig!“

Die Zellentür fiel krachend ins Schloß und die Taschenlampe erlosch.